Trend gesetzt
Vor 25 Jahren war ich als junger Redakteur auf der Suche nach neuen Stoffen und wollte dem damaligen Trend, Krimis mit starken Frauen, unbedingt etwas entgegensetzen. Da ich stets dem Prinzip „Never follow the crowd“ folge, kam mir ein vermeintlich „schwacher“, da chaotischer, Held gerade recht – in der Hoffnung, dass sich dieses bewusste Bekenntnis, etwas gegen den Trend zu lancieren, irgendwann auszahlen würde. Die Verbindung von Krimi und Komödie gab es damals noch nicht. „Wilsberg“ selbst hat einen Trend gesetzt, dem viele Krimiformate gefolgt sind. In seiner Mischung aus Krimi, Hintergründigkeit und Schabernack ist er jedoch einzigartig und unerreicht.
Ein Schulfreund aus Bielefelder Zeiten machte mich auf die (gerade in Mode kommenden) Regionalkrimis von Jürgen Kehrer aufmerksam. Da aber ein (Fernseh-)Film anderen dramaturgischen Gesetzen folgt als ein Roman, mussten wir für eine Verfilmung die Figuren anders aufstellen und auch neue etablieren: Manni (später Ekki), Anna Springer, Alex. Und nicht zu vergessen: Overbeck.
Über all die Jahre ist es uns gelungen, unverwechselbare, geradezu schrullige Charaktere zu schaffen, die das Publikum liebt. Und mehr noch: „Wilsberg“ ist eines der wenigen langlaufenden Formate, die der Fragmentierung des Fernsehmarktes trotzen und sogar noch an Quote zulegen können. Im April 2020 wurde erstmals die Neun-Millionen-Marke überschritten („Wilsberg – Vaterfreuden“). Auch bei den 14- bis 49-Jährigen ist ein zweistelliger Marktanteil keine Seltenheit mehr. 2019 haben wir die 70. „Wilsberg“-Folge produziert, und das Format ist stärker und robuster denn je.
2001 gab es die Internet-Initiative „eScript“, bei der Zuschauer an einem „Wilsberg“-Drehbuch erstmals mitarbeiten konnten. In der Folge „Letzter Ausweg: Mord“ hatten sogar sechs Autoren mit unserer Unterstützung ein komplettes Drehbuch geschrieben.
Das „eScript“-Projekt wurde mit dem ersten Grimme-Online-Award „Medienkompetenz“ ausgezeichnet. Auch heute noch wollen wir mit unseren Themen auf der Höhe der Zeit sein: wie Gesichtserkennung, Social Scoring, Big Data, Smart City, Predictive Policing, Whistleblowing, Fake News, K.O.-Tropfen und Soziale Netzwerke.
Grund für den Erfolg ist neben unseren fabelhaften Darstellern unter anderem die konsequente Formatarbeit, denn neue Episoden müssen das Format stets nach vorne bringen. Es lebt von Überraschungen und überraschenden Wendungen in seinen Geschichten. Themen für spannende und unterhaltsame „Wilsberg“-Folgen liegen auf der Straße, die Realität liefert oft die besten Geschichten. „Wilsberg“ behandelt meist (gesellschafts) politische Themen oder zwischenmenschliche Konflikte und wirft einen kritischen Blick auf unsere hektische Zeit mit einem – meist sarkastischen – Augenzwinkern.
Sehr früh haben wir auch meine Heimatstadt „Bielefeld“ in jede „Wilsberg“-Folge eingebaut – meist in einem lustigen Zusammenhang. Was anfangs nur als kleiner Insiderscherz gedacht war, ist mittlerweile zum Running Gag geworden.
Auch das Quaken einer Ente sowie das Auftauchen einer mit Zeitungsausschnitten verzierten Holz-Ente in jeder Folge ist mittlerweile Kult. Zuschauer bemerken dies und schreiben uns auch, wenn sie es nicht entdeckt haben. Wünschen wir unserem Chaos-Ermittler noch viele spannende und unterhaltsame Fälle.
Stoff für weitere Fälle gibt es noch reichlich…
Martin R. Neumann
Bis 2021 ZDF-Redakteur und Spriritus Rector der Wilsberg-Reihe