Toleranz durch Dialog
Münsters großes Geburtstagsgeschenk
Toleranz durch Dialog von Eduardo Chillida: 1993 kamen die symbolträchtigen
„Bänke" an
Am Montag, dem 17. Mai 1993 kamen die beiden Chillida-Bänke in Münster an. Über eine Strecke
von fast 1500 Kilometern ab Spanien hatte der schwere MAN-Lastwagen ihr Gewicht von zusammen
mehr als 18 Tonnen sicher transportiert. Noch vor sieben Uhr morgens brachte er sie, ohne
anzustoßen, durch die enge Gruetgasse in den Rathausinnenhof, wo ein Kran ihn von seiner
schweren Last befreite und die beiden massiven Bänke hinter dem Rathaus absetzte.
Die Vorgeschichte dieses Ereignisses geht in das Jahr 1987 zurück. Mit vielen anderen Künstlern war auch der Baske Eduardo Chillida, damals 63 Jahre alt, zur Teilnahme an der zweiten Ausstellung der Skulptur-Projekte Münster eingeladen worden. 1959, 1964, 1968 und 1977 hatte er an den Documenta-Ausstellungen in Kassel teilgenommen und war so international bekannt. Mit vielen Kunstpreisen war er schon geehrt worden.
Nach seiner Ankunft in Münster sah er sich die Stadt an, um für seine Präsentation einen optimalen Standort zu finden. Er dachte an eine abstrakte Skulptur mit dem Titel Toleranz, für die er bereits 1981 einen Platz in Sevilla ausgesucht hatte. Die Verwirklichung dieses Projektes hatte sich aber zwischenzeitlich verzögert. Der Titel bezog sich auf den Mangel an Toleranz, aus dem heraus nach der Eroberung Granadas im Jahre 1492 alle Mauren und Juden aus Spanien vertrieben worden waren.
Auf dem Dreieck bei der Servatii-Kirche in Münster fand Chillida einen Standort, der dem für Sevilla geplanten ähnlich sah. Während dieser Skulptur-Projekte Münster 1987 fragte Oberbürgermeister Jörg Twenhöven den Künstler, ob diese Skulptur nicht in Münster verbleiben könne. Chillida lehnte in aller Freundschaft ab: Man könne nicht eine für eine ganz bestimmte Umgebung konzipierte Skulptur in einen völlig anderen Zusammenhang hineinbringen. Eduardo Chillida erklärte sich aber bereit, eine Plastik speziell für Münster zu schaffen.
Die zündende Idee zu dieser speziell auf Münster bezogenen Großplastik kam ihm beim Empfang für die Skulptur-Teilnehmer im Friedenssaal des Rathauses, der alten Ratskammer. Zutiefst war er beeindruckt von diesem Raum und dessen historischer Bedeutung. Er sah im Geiste die Vertreter der verfeindeten Parteien des Friedenskongresses, der von 1643 bis 1648 gedauert hatte und den Dreißigjährigen Krieg beenden sollte, auf den Bänken entlang den Längsseiten des Saales sich gegenüber sitzen und in lebhaftem Dialog miteinander verhandeln. Wenn diese Verhandlungen auch sechs Jahre gedauert hatten, hatten sich schließlich die Bevollmächtigten der vielen miteinander streitenden Kriegsparteien doch auf einen Friedensvertrag verständigt, der im Oktober 1648 unterzeichnet wurde. Dass die Parteien nur selten direkt miteinander verhandelten, die Verhandlungen vielmehr nur indirekt durch Vermittler geführt wurden; dass die Unterzeichnung nicht im Rathaus stattgefunden hatte, sondern der Ratsbote von Gesandtenquartier zu Gesandtenquartier in der Stadt herumgegangen war und die Unterschriften eingesammelt hatte, ist dabei nebensächlich.
Chillidas Idee war, diese sich gegenüber liegenden Ratsbänke aus dem Raum des Friedenssaales hinter dem Rathaus ins Freie zu verlegen. Dabei missfiel dem Künstler die fehlende Gestaltung dieses Hinterhofes. Der spanische Architekt Joaquin Montero wurde deshalb beauftragt, einen würdigen Rahmen für die zu erwartende Skulptur zu schaffen. Die Fläche direkt hinter dem Rathaus legte er um vier Stufen tiefer. Bei dieser Aktion wurden zur allseitigen Überraschung auf der Rückseite des Rathauses zwei vorher verschüttete Kellerfenster freigelegt, die seither dem Ratskeller unter dem Rathaus ein wenig mehr natürliches Licht geben. Die Stufen schufen zugleich für die beiden Bänke einen zusammenfassenden Rahmen.
Wie Chillida dazu kam, seine Idee ausgerechnet in zwei tonnenschweren Brammen aus Corten-Stahl zu verwirklichen, lässt sich am besten aus seiner Biografie verstehen. Geboren wurde er am 10. Januar 1924 in San Sebastián im Baskenland. Mit 19 Jahren ging er nach Madrid und begann ein Architekturstudium. Nach vier Jahren brach er dieses ab zugunsten einer Ausbildung als Zeichner an einer privaten Kunstakademie. Wieder ein Jahr später ging er nach Paris und richtete sich dort ein Atelier ein. Seine damaligen Werkstoffe waren zunächst Gips und Ton. Aber auch die Beschäftigung mit Eisen lernte er hier kennen. Nachdem er 1951 endgültig ins Baskenland zurückgekehrt war, bezog er ein großes Haus in Hernani, dem Nachbarort seines Geburtsortes. Dort richtete er sich unter anderem auch ein Atelier mit eigener Schmiede ein. Die hier geschaffenen Entwürfe und erste Arbeiten in Schmiedetechnik schufen die Grundlage zu seinen späteren großen abstrakten Metallplastiken.
Es ist nicht leicht, eine abstrakte Idee in eine konkrete Skulptur umzusetzen. Umgekehrt bedürfen deshalb auch die Details der Skulptur Toleranz durch Dialog ihrer Interpretation. Denn Chillidas Skulptur illustriert keinen historischen Dialog, sondern übersetzt die Voraussetzungen für einen solchen ins Skulpturale.
Chillidas Grundidee: Er wollte zwei sich gegenüber stehende Bänke schaffen. Auf Bänken sich gegenüber Sitzende können sich gegenseitig wahrnehmen, miteinander reden, also einen Dialog führen. Sie können aber im Sitzen nur schwer gegeneinander kämpfen. Mit der Schwere der beiden Bänke macht Chillida zugleich auf die fundamentale Bedeutung des Friedensvertrages von 1648 für Europa aufmerksam. Er war nach immerhin sechs Verhandlungsjahren ein Friedensschluss, der diesen Krieg nicht durch Unterwerfung der einen Kriegspartei unter einen Sieger beendete, sondern erstmals durch gegenseitige Toleranz den Konflikten ein Ende setzte. Seine Regelungen haben weitgehend fast 150 Jahre bis zur Französischen Revolution Bestand gehabt und prägen in einzelnen Bestimmungen noch unsere Zeit. Deshalb gilt dieser Friedensschluss als historischer Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten und als Beitrag zum friedlichen Miteinander der Konfessionen. Die Verhandlungen von Münster und Osnabrück stehen am Anfangspunkt einer Entwicklung, die zur Herausbildung des modernen Völkerrechts geführt hat. Die Politikwissenschaftler sehen hier die Grundlage des souveränen Nationalstaates.
Gestalterisch waren die sich gegenseitig ergänzenden Ausschnitte im Rückenteil der Bänke genau aufeinander abzustimmen. Diese Einschnitte in den beiden Skulpturteilen nehmen der monumentalen Arbeit Wucht und Schwere, lockern sie auf und lassen unterschiedliche Sichtweisen auf das Kunstwerk zu. Dadurch wirken die Bänke nicht klotzig oder klobig, sondern demonstrieren immer wieder die Spannung zwischen Materie und Geist.
Indem die Rückenlehnen der beiden Bänke einen Raum aufspannen, begrenzen sie einerseits die Fläche des Platzes auf ein menschliches Maß; indem sie sich zugleich aber über den rechten Winkel hinaus öffnen, entspannen sie diesen gleichsam, überschreiten seine Grenzen und beziehen – wie andere Arbeiten Chillidas – eine kosmische Dimension mit ein. In all seinen Werken zeigt sich immer wieder dieses Anliegen. Jede der beiden Bänke ist 283 Zentimeter breit und 110 Zentimeter hoch. Das Maß von Sitzfläche plus Lehne beträgt 124 Zentimeter. 124 Zentimeter ist auch der Abstand der beiden Bänke voneinander.
Nachdem die beiden Bänke am 17. Mai 1993 aufgestellt worden waren, wurden sie in schwarze Folie gehüllt und die nächsten 24 Stunden gut bewacht. Am folgenden Tag, Dienstag, dem 18. Mai 1993, dem 350. Jahrestag der Eröffnung des Friedenskongresses 1643, erfolgte bei strahlendem Sonnenschein die feierliche Enthüllung und Übergabe an die Stadt. Als Erster begrüßte der damalige Oberbürgermeister Jörg Twenhöven die Anwesenden. Nach ihm wies der baskische Kultusminister auf die Bedeutung von Toleranz hin. Die eigentliche Übergabe der Skulptur blieb dem Vorstandsvorsitzenden der Westdeutschen Landesbank, Friedel Neuber, vorbehalten: „Das ist unser Geburtstagsgeschenk anlässlich des 1200-jährigen Stadtjubiläums". Mit der Übergabe dieses wertvollen Kunstwerkes, so Neuber, wolle die Westdeutsche Landesbank zeigen, wie sehr sie sich der Stadt Münster verbunden fühle.
Dann ergriff Chillida selbst das Wort. Er erklärte noch einmal seine künstlerischen Intentionen und die Entwicklung seiner Ideen von der ersten Bekanntschaft mit dem Platz an der Rathaus-Rückseite und der Inspiration durch den Friedenssaal. Alle seine Skulpturen suchten den Dialog mit einem spezifischen Ort im öffentlichen Raum. Die Bänke seien Gelegenheit zum Sitzen und die Sitzgelegenheit ein Ort, miteinander zu reden. Und auch dafür, dass seine imposanten Stahlbänke nicht sehr bequem geraten seien, hatte Chillida eine einleuchtende Begründung: „Sie sind nicht dafür bestimmt, Körper aufzunehmen, sondern Ideen." „Für meine Arbeit hätte ich keinen geeigneteren Ort in Europa finden können", versicherte er mit Nachdruck. Auch Bundespräsident Richard von Weizäcker war zu der feierlichen Übergabe gekommen, zugleich auch, um der Stadt zu ihrem 1200-sten Geburtstag zu gratulieren. Er verzichtete aber auf eine Ansprache.
Nachdem die Festgäste sich zum Essen ins Rathaus zurückgezogen hatten, entspannen sich unter den anwesenden Münsteranern heftige und durchaus kontroverse Diskussionen. Die Meinungen waren geteilt zwischen denen, die spontan die große Bedeutung dieses einmaligen Kunstwerkes gerade für die Stadt Münster erkannten und zu schätzen wussten bis zu der gegenteiligen Ansicht: „So viel Geld für diesen rostigen Schrott?" Ein heftiger Dialog, der bis heute andauert, entbrannte. Auch dies war ganz im Sinne Chillidas: „Wenn sie keinen Anlass zur Diskussion böten, wären meine Skulpturen ja langweilig".
Nach inzwischen fast 22 Jahren seit der Übergabe der Chillida-Skulptur an die Stadt hat sich ihre Wertschätzung weitgehend durchgesetzt. Bei Stadtführungen ist sie ein Ziel für die Gruppen, und es gibt Kunst-Reisende, die eigens wegen dieser Chillida-Skulptur nach Münster kommen. Erfahrene Kunstsachverständige sind der Meinung, dass Münster drei herausragende Großskulpturen besitze:
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- Das Ehrenmal für die in den Freiheitskriegen Gefallenen von Bernhard Freydag im ehemaligen Außengraben der Stadt zwischen Mauritztor und Hörstertor (das sog. „Schinkendenkmal")
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- die „großen Wirbelknochen" von Henry Moore auf dem früheren Zoogelände zwischen Promenade und Zentralfriedhof; und
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- seit 1993 die Skulptur Toleranz durch Dialog von Eduardo Chillida hinter dem Rathaus.
Autor: Otto-Ehrenfried Selle
Quelle: Westfälische Nachrichten, Auf Roter Erde, Heimatblätter für Münster und das
Münsterland, Januar 2015