Augustin Wibbelt kannte das Herz der Menschen
Eine Würdingung von Rainer Schepper
Münster.Meist sind es äußere Daten, die den Anlass geben, Leben und Werk eines
bedeutendenMenschen wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. So gibt der19.
September 2012 Gelegenheit, an Augustin Wibbelt zu erinnern, den vor 150 Jahrenin Vorhelm
geborenen Dichter, Priester und westfälischen Volksschriftsteller, dervor 65 Jahren gestorben
und in der Kapelle auf dem elterlichen Hof beigesetzt worden ist.
Von 1906 bis 1935 war Augustin Wibbelt Pfarrer in Mehr bei Kleve. In dieser Zeitsind seine
reifsten und seine besten Werke entstanden. Noch heute lebt sein Andenkenam Niederrhein wegen
seiner Plaudereien in der "Christlichen Familie" und seinerzahlreichen hochdeutschen
Essaybücher, der "Bücher der Freude". Dr. Augustin Wibbeltgehört mit Fritz Reuter zu den Großen
der niederdeutschen, der plattdeutschen Dichtungund ist neben diesem sicher der beste Erzähler
und zudem der größteniederdeutsche Lyriker.
Schwieriger Zugang
Ein literarisches Werk – wie jedes Kunstwerk – lässt sich durch Zuhilfenahmeunterschiedlicher
Kriterien erfassen und bewerten. Dabei sollte man vorweg sagen,dass es heute schwieriger sein
wird als je zuvor, einer breiten Leserschaft dieniederdeutschen Werke Augustin Wibbelts zu
erschließen. Und zwar nicht etwa deshalb,weil sie in der Gegenwart, also in einer veränderten
Umwelt, in einer andersstrukturierten Gesellschaft an Interesse verloren hätten – das etwa
ließe sichvon den Dichtungen Karl Wagenfelds sagen, die uns heute weniger zu bedeuten
haben.Sondern vielmehr deshalb, weil die Kenntnis der plattdeutschen Sprache weiterzurückgeht,
trotz der seit Jahren zu beobachtenden Renaissance des Interesses fürsie. Leser haben eine
Hemmschwelle zu überwinden, wollen sie sich der DichtungAugustin Wibbelts nähern.
Eben dieser Grund, nämlich das Lesen und Verstehen westfälisch-münsterländischerMundart, hat es wohl auch bewirkt, dass Wibbelt – etwa im Gegensatz zu Klaus Grothund Fritz Reuter – über die Grenzen seiner Sprachlandschaft kaum hinauskam, obwohlsein Werk zu den besten literarischen Erzeugnissen deutscher Literatur der letzten200 Jahre gerechnet werden muss. Diese Behauptung, die ungewöhnlich und kühnerscheinen mag, wird nicht nur gestützt durch zwei Dissertationen über WibbeltsWerk (von Gertrud Schalkamp und Siegbert Pohl), sondern auch durch zahlreicheEinzelbeobachtungen und Einzeluntersuchungen.
Wenn etwa Erich Nörrenberg wiederholt darauf hinwies, dass dem Lyriker Wibbeltkein anderer niederdeutscher Dichter vergleichbar sei, dass indes drei anderePfarrerdichter ihm seltsam nahe stehen, nämlich Guido Gazelle, Johann Peter Hebelund vor allem Eduard Mörike, so gibt auch das nur Hinweise auf einzelne GrundzügeWibbeltscher Dichtung, stellt ihn jedoch längst nicht als die unvergleichbareEinzelerscheinung in der deutschen Literatur heraus, als die er zweifellos angesehenwerden muss.
Wir können uns hier nur auf einige wenige Hinweise beschränken, die dem Leserwieder den Zugang zu Wibbelts Werk erschließen helfen.
Da ist zunächst die erfrischende Aktualität der Wibbeltschen Dichtung zu nennen.Fast alle seine Werke, jedenfalls seine Gedichte, Erzählungen und Romane, sindnicht nur unveraltet, obwohl sie in der Vergangenheit spielen, sondern in ihrermenschlichen Aussage hochaktuell. Wie ist das möglich?
Einmal weiß Wibbelt seine Gestalten so lebenswahr und in ihren Situationen soplastisch und glaubwürdig, so nahtlos überzeugend darzustellen, dass wir dasEmpfinden haben, ihnen unmittelbar zu begegnen, ja, sie seit langem zu kennen undmit ihren Problemen vertraut zu sein. Zum anderen schildert Wibbelt seine Menschenbei aller scharfer Beobachtung und schonungsloser Realistik nicht mit menschenverachtendemSpott, kalter Ironie oder aus sezierender Distanz, sondern mit feinsinnigem Humor,gemütvoller Güte, liebenswertem Charme und humanitärer Anteilnahme, dazu mitgleicher Meisterschaft in tragischen und heiteren, in leidvollen und übermütig-fröhlichenSituationen.
Es sei erlaubt, die Rezeption Wibbeltscher Dichtungen in unserer Zeit exemplarischdarzustellen an Hand von Briefzitaten einer für Literatur kritisch aufgeschlossenenMünchnerin, die bis vor kurzem kein plattdeutsches Wort verstand und doch die großeMühe auf sich nahm, sich in Wibbelts Werke einzulesen. Sie berichtet von unwiderstehlichenHeiterkeitsausbrüchen, wie sie sie bislang noch bei keinem anderen dichterischen Werkerlebt habe, rühmt dabei die Feinsinnigkeit des Erzählens, den unvergleichlichenCharme und die strahlende Warmherzigkeit des Autors, bei dem man 'übrigens nichtnur Tränen lachen, sondern auch weinen' müsse, zumal Wibbelt es verstehe, Menschenschicksale,besonders auch Frauenschicksale, zu seiner Zeit exemplarisch an seinen Einzelgestaltendeutlich zu machen. Sie rühmt des Autors subtile Menschenkenntnis, hebt manche besondersbemerkenswerten Literarischen Kunstgriffe hervor, so etwa von 'Hus Dahlen', wo eszur Lösung des Problems der beiden Liebenden ohne deren Anwesenheit kommt.
Ich selbst habe Augustin Wibbelt in seinen letzten vier Lebensjahren noch erlebenund ihm nahe stehen dürfen. Diese Zeit ist dokumentiert durch einen angeregtengegenseitigen Briefwechsel und meine 32, auch mehrtätigen, tagebuchartig festgehaltenenBesuche bei ihm auf dem alten Wibbelthof.
Geistige Weite
Wibbelts geistige Weite, seine Ausstrahlung, seine Herzenswärme und Güte, seinverstehendes
Teilnehmen vermittelten mir ohne die geringste moralische LehrhaftigkeitBegriff und Bedeutung
einer Ethik, die mir richtungsweisend und lebensbestimmend wurde.Dazu besaß er ein
allumfassendes Wissen und fundierte Kenntnisse auf fast allen Gebietender Wissenschaft und des
Lebens.
Einzig Unwahrhaftigkeit und Herzensrohheit mussten ihm fernbleiben. Darin war erkonsequent und unerbittlich. Und so habe ich ihm zu danken für eine unvergleichlicheFreundschaft, die über seinen Tod hinaus bis auf diese Stunde lebendig geblieben ist.
- Unser Autor Rainer Schepper, geboren 1927 in Münster, ist einer der bekanntestenund erfolgreichsten Rezitatoren der Stadt. In seinen Lesereihen im Rüschhaus undKrameramtshaus hat er immer wieder Wibbelts Werke gepflegt.
Quelle: Westfälische Nachrichten am Mittwoch, 19. September 2012
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