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„Das geht mich ja was an!“
Förderung der Villa ten Hompel durch die Stiftung EVZ und das Bundesministerium der Finanzen in der "Bildungsagenda NS-Unrecht"
„Am Ende ging es um mich“, äußerte sich eine Polizistin beim Abschluss eines Thementages „Polizeigeschichte“ in der Villa ten Hompel. Entgegen der Erwartungen, dass im Geschichtsort tatsächlich rein über „Geschichte“ gesprochen würde und Polizeigeschichte wenig mit den eigenen Arbeits- und Lebenswelten heutiger Polizeibeamter zu tun hätte. Doch gerade um die Geschichte und Gegenwart nationalsozialistischer Verbrechen im Alltagshandeln von Polizei und Justiz dreht sich das Pilotprojekt der Villa ten Hompel mit dem Titel „Das geht mich ja was an!“, in dessen Rahmen Thementage mit diesen Berufsgruppen neu- bzw. weiterentwickelt werden sollen.
Mit einer Summe von 250.000€ fördern die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und das Bundesministerium der Finanzen (BMF) in der 2021 gestarteten Bildungsagenda NS-Unrecht im Schwerpunkt „Transfer“ das Bildungsprojekt des Geschichtsortes. Ziel des Förderprogramms in diesem Schwerpunkt ist eine Stärkung demokratischer Haltungen sowie eines Einstehens gegen Diskriminierungsformen durch einen Wissenstransfer über Lehren aus der NS-Vergangenheit an relevante Berufsgruppen.
Anfang Februar kamen nun alle Projektmitarbeitenden der Villa ten Hompel zum Auftakttreffen zusammen. Neben dem Projektleiter Peter Römer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschichtsort, sind teils langjährige Mitarbeitende der Villa ten Hompel sowie Studierende an dem Projekt beteiligt, die mit der Durchführung von Thementagen mit Polizei- und Justizgruppen vertraut sind.
Fragen wie „Welche Methoden gelingen erfahrungsgemäß?“ und „An welchen Stellen gibt es Weiterentwicklungsbedarf?“ bestimmten die ersten Überlegungen zur Neu- und Weiterentwicklung des Bildungsangebotes, denn seit vielen Jahren finden in der Villa ten Hompel Seminare zu Polizei- und Justizgeschichte statt. In Halbtages- und Tagesformaten setzen sich Polizei- und Justizmitarbeitende verschiedener hierarchischer Ebenen mit dem historischen Geschehen und ihrer Verantwortung in der Ausübung exekutiver bzw. judikativer Gewalt auseinander. Die Geschichte des Hauses als polizeilicher Täterort im Nationalsozialismus, Entnazifizierungsstätte und Sitz des Wiedergutmachungsdezernats eröffnen dabei Perspektiven auf nationalsozialistische Täterschaft sowie Brüche und Kontinuitäten im personellen Bereich, aber auch im Denken und Handeln staatlicher Berufsgruppen nach 1945. „Seit vielen Jahren ist die Villa ten Hompel ein zentraler Bildungsort, an dem Polizistinnen und Polizisten sowie Justizbeamtinnen und -beamte über ihren beruflichen Alltag ins Gespräch kommen. Wir freuen uns, dass der Geschichtsort als einer von vier Institutionen in der Bildungsagenda NS-Unrecht im Schwerpunkt Transfer durch die Stiftung EVZ gefördert wird – und damit auch ein Zeichen zur Weiterentwicklung und Verstetigung der historischen Bildungsarbeit mit staatlichen Bediensteten gesetzt wird.“, so Cornelia Wilkens, Dezernentin für Soziales und Kultur der Stadt Münster.
Schwerpunktmäßig soll in den Thementagen der historische und gegenwärtige Umgang mit antisemitischen, rassistischen, antiziganistischen und queerfeindlichen Denk- und Verhaltensweisen problematisiert und reflektiert werden. Angestrebt werden damit Sensibilisierungen für den heutigen beruflichen Alltag. Neben dem breiten Erfahrungsschatz aus langjähriger Seminarpraxis bietet das Projekt so für das Team der Villa ten Hompel die Chance, bestehende Inhalte und Methoden zu evaluieren und neu zu konzipieren.
Hierfür wird auch eine digitale Anwendung verwendet, die im letzten Jahr im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projektes „Dive.in – Neustart Kultur - Programm für digitale Interaktionen“ entwickelt wurde: Um „mit Geschichte im Gespräch zu bleiben“, so der damalige Projekttitel, treten Mitarbeitende des Geschichtsortes schon vor dem Gedenkstättenbesuch mit den Teilnehmenden in Kontakt und bieten auch nach dem Thementag eine Reflexion über Diskussionen und Eindrücke sowie die Teilnahme an weiteren Veranstaltungen an.
Mit den erweiterten digitalen Möglichkeiten sollen in Zukunft auch hybride sowie mehrtägige Formate in der Villa ten Hompel angeboten werden.
Mehr zur Bildungsagenda NS-Unrecht
Sensibilisieren für gegenwärtigen Antisemitismus
Am 31. Juli 2022 jährt sich zum achtzigsten Mal die Deportation von 901 deutschen Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt. Im Ghetto Theresienstadt, von den Nationalsozialisten ab November 1941 primär als Durchgangsstation für Deportationen in die Vernichtungslager im Osten benutzt, starben insgesamt etwa 33.000 Menschen. Unter ihnen auch der Großteil der Personen des „Transports Nr.XI/1“, welcher 901 Personen umfasste, 170 aus Münster und dem Münsterland. Unter dem Vorwand einer „Evakuierung“ in ein „Altersghetto“ wurden die größtenteils älteren Jüdinnen und Juden vom Güterbahnhof Münster in Güterwaggons deportiert. Das Ghetto Theresienstadt, wo der Transport am 1. August 1942 ankam, und die anschließende Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager überlebten lediglich 11 der 901 ursprünglich deportierten Menschen. An einige der Deportierten erinnern heute Stolpersteine im Stadtgebiet von Münster. Intern betrachteten die Nationalsozialisten die von der Gestapoleitstelle Münster/ Bielefeld organisierte „Aktion“ als Erfolg, das Gau Westfalen-Nord wurde als „judenfrei“ gemeldet.
Der solchen Deportationen und anderen nationalsozialistischen Verbrechen zugrundeliegende Antisemitismus beschäftigt das Team der Villa ten Hompel aus historischer Perspektive, aber auch als zeitgenössisches, strukturelles und gesamtgesellschaftliches Problem und Phänomen.
Im Rahmen des von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und des Bundesministeriums der Finanzen in der Bildungsagenda NS-Unrecht geförderten Projektes „Das geht mich ja was an!“ wird seit Beginn des Jahres 2022 in verschiedenen Arbeitsgruppen daran gearbeitet, berufsgruppenbezogene Seminarangebote und Fokusmodule für Polizei und Justiz zu entwickeln. Diese geschichts- und gegenwartsbezogenen Seminarmodule sollen die Teilnehmenden in partizipativer Art und Weise dazu anregen und ermutigen, die eigene berufliche Rolle, das alltägliche Handeln als Teil der exekutiven und judikativen Gewalt sowie den individuellen „Wertekompass“ zu reflektieren und demokratiestärkende Haltungen zu entwickeln.
Die AG-Antisemitismus möchte hierbei vor allem den Blick für zeitgenössische Formen und Erscheinungsweisen von Antisemitismus schärfen. Die nationalsozialistische Geschichte soll dabei Hebel und Ausgangspunkt sein, um über Brüche, aber auch Kontinuitäten antisemitischer Einstellungen und Diskriminierungen ins Gespräch zu kommen. Die Vermittlung einer Gegenwartsperspektive auf Antisemitismus, welche ohne unzulässige Parallelisierungen zwischen historischen Ereignissen und heutigen Prozessen auskommt, soll den Teilnehmenden eine Möglichkeit geben, auf Augenhöhe zu diskutieren, sich auszutauschen und Handlungssicherheit für den beruflichen Alltag zu erlangen. Dazu lernen die Teilnehmenden Betroffenenperspektiven kennen, beschäftigen sich anhand von Fallbeispielen mit verschiedenen Formen und Charakteristika des zeitgenössischen Antisemitismus (z. B. Umwegkommunikation und „Abwertung durch Aufwertung“) und arbeiten mit wissenschaftlichen Definitionen sowie dem „3-D-Test“. So erkennen die Teilnehmenden Antisemitismus als Bruch mit und Widerspruch zum individuellen „Wertekompass“, also als etwas, das sie, nicht nur in ihrer Berufsrolle, „etwas angeht“.
Eingebunden in den breiteren Kontext der Villa ten Hompel als Ort nationalsozialistischer Verbrechen, bundesrepublikanischer „Wiedergutmachung“ und „Geschichtsort“ der historisch-politischen (Weiter-)Bildung soll am Ende der eintägigen Seminare eine produktive Irritation und Reflexion der eigenen Verantwortung und des eigenen Handelns als Individuum in einer staatlichen Institution mit nationalsozialistischer Vergangenheit stehen.
Rassismus in Geschichte und Gegenwart polizeilichen und justiziellen Handelns
Vor 56 Jahren riefen die Vereinten Nationen den „Internationalen Tag gegen Rassismus“ aus – wörtlich aus dem Englischen und Französischen übersetzt ein Tag „für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung“.
Bewusst wurde der Tag für den 21. März festgelegt; dem Tag, an dem Polizisten 1960 in Sharpeville 69 gegen die diskriminierenden Passgesetze des Apartheidsystems demonstrierende schwarze Menschen erschossen. Doch rassistische Diskriminierung ist, im privaten Alltag wie auch im beruflichen Handeln, keine Seltenheit. Fälle wie der Todesfall von Oury Jalloh im Jahr 2005 oder die rassistischen Morde des NSU und deren mangelhafte Aufarbeitung zeigen dies nur zu deutlich. Und sie zeigen den Bedarf, für rassistische Denk- und Verhaltensweisen zu sensibilisieren und ihnen entgegenzuwirken. Dieses Ziel verfolgt auch das durch die Stiftung EVZ und das Bundesministerium der Finanzen in der Bildungsagenda NS-Unrecht geförderte Projekt „Das geht mich ja was an!“ des Geschichtsortes: So bildet Rassismus in der Berufsausübung einen Themenschwerpunkt der geschichts- und gegenwartsbezogenen Seminare mit Polizei- und Justizangehörigen, die im Rahmen des Projektes neu konzipiert und weiterentwickelt werden sollen.
Seit einigen Wochen sichten Mitarbeitende der Arbeitsgruppe „Antirassismus“ des Projektes nun Fachliteratur und Quellen und diskutieren über die mögliche Gestaltung eines Diskussionsmoduls.
Rassismus in der Geschichte…
Eine Plakette vor einem Luftschutzbunker mit der polizeilichen Anordnung, dass allen Ausländern das Aufsuchen des Bunkers verboten sei, vorgeblich um die Übertragung von Ungeziefer zu vermeiden. Die Verhaftung und Ermordung eines Zwangsarbeiters, der eine Liebesbeziehung zu einer deutschen Frau pflegte – eine „Rassenschande“ nach damalig gültigem „Recht“.
Beide Quellen stehen exemplarisch für das Handeln staatlicher Institutionen wie Polizei und Justiz in ihrer Rolle, geltendes Recht durchzusetzen und zu verteidigen. Immer unter dem Vorwand des Gemeinwohls, das Richtige für die „Volksgemeinschaft“ zu tun. In ihrem Sinne, durch rassistische Denkweisen verschoben sich allerdings die Grenzen des Sagbaren und des Handelns immer mehr und änderten die Gesetze bis hin zur Legalisierung radikalster Verfolgungsaktionen derjenigen, die nicht als Teil der Gemeinschaft galten.
Doch das Beispiel der Liebesbeziehung zeigt auch, dass einzelne Personen die rassistischen Vorurteile überwanden. In diesem Fall im Privaten, doch es bestanden auch auf beruflicher Ebene Handlungsspielräume, auch für Polizisten und Juristen: Wenige von ihnen machten Entscheidungen nicht allein davon abhängig, ob das Verhalten legal war, sondern hinterfragten die Legitimität möglicher Verfolgungsmittel und ob diese mit ihren persönlichen Werten übereinstimmten. Darüber zu diskutieren, inwiefern individuelle Haltungen und Meinungen in staatlichen Institutionen eine Rolle spielen und eigene Denk- und Verhaltensweisen zu reflektieren, ist eines der Ziele der Thementage in der „Villa“.
…und Gegenwart
Als Entnazifizierungsstätte und Sitz des Wiedergutmachungsdezernats der Stadt Münster sollen der Besuch und die Seminare in der Villa aber nicht nur Perspektiven auf die Rolle ihrer Berufsgruppe in der NS-Zeit eröffnen, sondern auch über Brüche und Kontinuitäten im personellen Bereich sowie im Denken und Handeln staatlicher Berufsgruppen nach 1945 und bis in die Gegenwart. Wenn in der Ausstellung vor allem innereuropäischer Rassismus gegenüber Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen thematisiert wird, welche Gruppen sind dann heute vor allem mit rassistischer Diskriminierung von Polizei und Justiz konfrontiert?
Feindlichkeit gegenüber Menschen aus dem Ausland oder als fremd gelesenen Menschen können beispielsweise vor dem Hintergrund der Anwerbeabkommen und Arbeitsmigration thematisiert werden. Aber insbesondere rassistisch motivierte Gewalttaten und offene Anfeindungen sollen die Grundlage bilden für einen Transfer der historischen Problematik in die Gegenwart. Betroffene dieser Angriffe sollen zu Wort kommen und ihre Erfahrungen schildern können. Aber auch die Sichtweisen von beteiligten oder außenstehenden Polizisten und Polizeistinnen und Juristen und Juristinnen auf diese Ereignisse können Diskussionen auslösen und Seminarteilnehmende dazu anregen, Haltungen einzunehmen.
Wie blicken Polizei- und Justizangehörige etwa auf den Einsatz in Rostock-Lichtenhagen 1992, als hunderte, teils rechtsextreme Randalierende die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter und -arbeiterinnen angriffen, und auf Beurteilungen vieler rassistisch motivierter Taten als „Einzelfälle“? Was bedeutet es für Polizei und Justiz, aber auch für Betroffene rassistischer Diskriminierung, dass Rassismus an sich keinen Straftatbestand darstellt und rassistische Beweggründe in Strafverfahren oft mangelhaft Berücksichtigung finden?
Unterschiedlichste Fragen bestimmen aktuell die Diskussionen in der Projektgruppe: Wie genau Reflektionen und Perspektivwechsel angeregt werden sollen und in welcher Form schlussendlich Gespräche entstehen sollen, ist aktuell noch völlig offen. So stellen sich auch Grundsatzfragen, ob im Rahmen der historischen Bildungsarbeit lediglich für solche Denkweisen sensibilisiert werden kann, oder auch Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden können.
Klar ist aber, dass rassistische Diskriminierung nicht nur am Internationalen Tag oder den Wochen gegen Rassismus problematisiert, sondern ein Ansatz für alltägliches Handeln – im Beruf und im Privaten – gefunden werden soll und rassistische Diskriminierung hoffentlich beseitigt werden kann.
Queerfeindlichkeit in Geschichte und Gegenwart: Das geht uns was an!
Vor 32 Jahren, am 17. Mai 1990, beschloss die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Homosexualität nicht weiter als Krankheit zu klassifizieren. Seit 2005 feiern daher lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI*) weltweit den „International Day Against Homophobia“ (IDAHO), den Internationaler Tag gegen Homophobie und Transphobie am 17. Mai.
Dass Vorurteile, Diskriminierung und auch gewaltsame Übergriffe gegen LSBTI* auch weiterhin keine Seltenheit sind, zeigt nicht nur die Tatsache, dass gleichgeschlechtliche Liebe in 70 Staaten auf der Welt auch heute noch strafbar ist. In der Bundesrepublik Deutschland fällt erst 1994 – vier Jahre nach der bahnbrechenden Entscheidung der WHO – der §175 StGB, der Strafrechtsparagraph, der sexuelle Kontakte zwischen Männern lange Zeit in unterschiedlichen Versionen als „Unzucht“ verfolgte. Nicht zuletzt streicht die WHO erst am 1. Januar 2022 in den „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” (ICD)-11 Transsexualität als Krankheit. Ob und wann diese neue Ausgabe der ICD in Deutschland umgesetzt wird, ist noch offen.
Rechtliche Festlegungen folgen in der Regel gesellschaftlichen Diskussionen nach. Und queeres Leben in Deutschland polarisiert. In früheren Diskursen häufig vergessen, kämpfen LSBTI* immer noch dafür, in öffentliche Debatten aufgenommen und gehört zu werden. Im Projekt „Das geht mich ja was an!“ des Geschichtsortes Villa ten Hompel, gefördert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) in der Bildungsagenda NS-Unrecht, soll genau dieser Thematik nun neuer Platz eingeräumt werden. Historische und zeitgenössische Queerfeindlichkeit und die mit ihr verbundenen Aushandlungsprozesse, Veränderungen und Konflikte werden dabei im Hinblick auf polizeiliches und juristisches Handeln und individuelle Handlungsspielräume vermehrt in den Blick genommen.
Mitarbeitende der zuständigen Arbeitsgruppe haben daher in den letzten Wochen inhaltlich und methodisch an einem neuen Seminarmodul gearbeitet, in dem unter anderem die Diskussion der Frage „Inwiefern ist das Recht handlungsleitend?“ in Bezug auf unterschiedliche LSBTI*-Realitäten damals und heute Platz finden soll. Die Geschichte und Wirkung des §175 auf Verfolger und Verfolgte spielt dabei über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus eine entscheidende Rolle.
Münster als Schauplatz queerer Geschichte…
Ein Teil des neu erarbeiteten Moduls leitet sich direkt aus Münsters eigener Geschichte ab. Am 29. April 2022 jährte sich die erste Homosexuellen-Demonstration in der Bundesrepublik Deutschland zum 50. Mal – und sie fand gerade im häufig als „Provinz“ bezeichneten Münster mit katholischer Bevölkerungsmehrheit statt. Zum 1. September 1969 war der §175 StGB liberalisiert und männliche Homosexualität unter Erwachsenen ab 21 Jahren nicht mehr als strafbar eingestuft worden. Daraufhin gehen drei Jahre später zum ersten Mal homosexuelle Männer und Frauen gemeinsam auf die Straße – und kämpfen, auch mit Slogans wie „Homos raus aus den Löchern!“, für mehr Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung. Sie weisen darauf hin, dass rechtliche Ungleichheiten nach wie vor bestehen - und Verbesserungen der Gesetzeslage nicht mit gesellschaftlicher Ungleichbehandlung einhergeht.
Gleichzeitig wird der homosexuellen Frauengruppe der Stadt wenige Jahre später, 1975, verwehrt, einen Informationsstand in der Münsteraner Innenstadt aufzustellen. Die Stadt dürfe „derartige Informationen auf öffentlichen Plätzen nicht zulassen“.
Beide Beispiele machen die Vielschichtigkeit der Geschichte von LSBTI* in Deutschland nicht nur vor dem Hintergrund strafrechtlicher Verfolgung deutlich. Dabei treten immer auch Vertreter:innen von Polizei und Justiz als Akteur:innen in den Vordergrund, die, wie am Beispiel Münsters sichtbar wird, je nach Zeitpunkt und Kontext unterschiedlich handelten und entschieden. Diese Grauzonen und individuelle Perspektiven auf die Protagonist:innen der queeren Szene eröffnen den Teilnehmenden im Rahmen des Projekts in den Seminaren der Villa ten Hompel einen breiten Diskussionsraum. Hier kann das Zusammenspiel von Recht, gesellschaftlichen Werten und Normen und der Rolle des Individuums in einem rechtsprechenden oder rechtsvollziehenden Beruf besprochen und diskutiert werden, um daraus die eigene Berufsrolle in Gegenwart und Zukunft zu diskutieren.
Auch heute noch: Gewalt gegen LSBTI*…
Doch die Diskussionen beschränken sich nicht nur auf vergangene Aushandlungsprozesse und Entwicklungen, nicht nur historisch wühlt das Thema queeren Lebens in Deutschland auf. Noch am Christopher Street Day 2016 wird ein junger Mann in Köln Opfer von Polizeigewalt. In den folgenden Jahren steht er drei Mal vor Gericht – und wird, selbst angezeigt, jedes Mal freigesprochen. 2021 erhält er schlussendlich ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 €. Es zeigt sich, dass auch noch heute die verschiedenen Ausprägungen polizeilichen und justiziellen Handelns für LSBTI* von erheblicher Bedeutung sind.
Daher arbeitet die Projektgruppe der Villa ten Hompel momentan daran, zukünftigen Teilnehmenden der Thementage im Geschichtsort eine Vielfalt an Fallbeispielen zur LSBTI*-Geschichte und Gegenwart zur gemeinsamen Erarbeitung und Debatte zur Verfügung zu stellen. Dabei sollen rechtliche und gesellschaftliche Perspektiven aufgezeigt und miteinander in Verbindung gebracht werden. Wichtig ist es zudem, auch jene Betroffene einzubeziehen, die sowohl gesetzlich als auch gesellschaftlich unsichtbar blieben und bleiben. Lesbische Frauen stellen dabei nur eines von vielen Beispielen dar.
Nicht zuletzt werden auch queere Polizei- und Justizbedienstete am Entwicklungsprozess beteiligt. Nicht nur sie, sondern alle Seminarteilnehmenden aus Polizei und Justiz sollen jedoch am Ende eines Projekttages feststellen: “Das geht mich ja was an!”