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„Gedenken darf nicht zum Ritual erstarren“
Spannende Diskussionen über Erinnerungskultur im Pfarrzentrum St. Josef Kinderhaus
Emotional sehr bewegend und aufrüttelnd entwickelte sich ein Gesprächsnachmittag der Seniorinnen und Senioren im Pfarrzentrum St. Josef in Kinderhaus. Stefan Querl, Leiter der Villa ten Hompel, stellte sich im Jahr des „Doppeljubiläums“ in der Villa ten Hompel den Fragen aus dem Publikum. Er gab Denkanstöße zu Themen, die Geschichtsbegeisterte in Münster bewegen. So wurde das Gebäude am Kaiser-Wilhelm-Ring vor 100 Jahren von der katholischen Fabrikanten-Familie ten Hompel errichtet. Seit 25 Jahren ermöglicht der städtische „Geschichtsort“ dort die Auseinandersetzung mit den Zeitläuften des zwanzigsten Jahrhunderts: Mit der Weimarer Republik, dem NS-Regime, der Nachkriegszeit und dem Kalten Krieg, wie es in einer Pressemitteilung heißt. „Geschichte Gewalt Gewissen“ nennt sich die Ausstellung im Hause.
Doch wie lassen zum Beispiel sich die Würdigung von Verfolgten in der braunen Diktatur oder ehemaligen KZ-Häftlingen mit einem soldatischen Gedenken an die in den beiden Weltkriegen „Gefallenen“ vereinbaren? Stellt sich die Polizei ihrer Vergangenheit, auch an NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein? Was bleibt von den Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Schlesien, Pommern und anderen früheren Ostgebieten, die jetzt zu Polen gehören? Was denken Polen und Deutsche heute über die Leidens- und Grenzerfahrung? Es gab eine Fülle von Fragen im Saal, in dem auch Lisa-Maria Schuster, studienbegleitend Praktikantin in der Villa ten Hompel, das Gespräch mit den Seniorinnen und Senioren suchte.
Stefan Querl beschrieb das Aufbrechen europäischer Tabus in der Erinnerungskultur und die konkrete Arbeit in der Villa ten Hompel, aber auch erfolgreiche Aussöhnungs-Initiativen von Partnern wie dem Maximilian Kolbe Werk oder der Akademie Franz Hitze Haus in Münster, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge oder dem Bündnis vieler Parteien bei „Gegen Vergessen Für Demokratie“. Lisa Trenkamp aus dem Gemeinderat, Ingrid Feldkamp und weitere Engagierte gestalteten das spannende Programm der Verbund-Kirchengemeinde St. Marien und St. Josef mit ihrer Moderation und mit vertiefenden Fragen.
Einige Anwesende berichteten von Schicksalsschlägen in ihren eigenen Familien im Krieg oder beim Verlassen ihrer Heimat. „Gedenken darf nicht zum Ritual erstarren“, appellierte Stefan Querl. Der 50-Jährige unterstrich, dass „Zeitgeschichte stets eben auch Streitgeschichte“ sei. Auch um die Etablierung des Geschichtsortes in Münster sei heftig debattiert worden in den 1990er Jahren. „Die Reibungen im Rat und in der Öffentlichkeit haben schlussendlich jede Menge positive Energie erzeugt, um viele Menschen für Zusammenhänge zu interessieren. Die Villa ten Hompel ist so wirklich angenommen worden und hat von Anfang an pädagogisch-wissenschaftlich fundiert gearbeitet.“ Schulen, Hochschulen, gesellschaftlich relevante Gruppen seien Nutzer.
Tief beeindruckt habe ihn in dem Zusammenhang zum Beispiel Tilmann Pünder, Münsters letzter Oberstadtdirektor einer Doppelspitze und als Pensionär Forscher, der viel Sachkunde und Rückgrat bewiesen habe. 2019 und auch noch kurz vor seinem Tode zwei Jahre später habe der pensionierte Spitzenbeamte öffentlich zu seinem ganz persönlichen Sinneswandel gestanden, schilderte Stefan Querl. „Ich war zunächst sehr skeptisch auf Verwaltungsseite, was die Villa ten Hompel anging“, hatte der Dr. Pünder damals mehrfach in Veranstaltungen vor Publikum geäußert. „In der Rückschau kann ich aber nur betonen, wie richtig und wichtig die Entscheidung war, 1999 den Geschichtsort am Kaiser-Wilhelm-Ring einzurichten.“