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Jüdisches Leben erinnern - Den Tätern der Polizei auf der Spur
Bildungsreise anlässlich des Jahrestages des Massakers von Bialystok
Warschau, Krakau, Vilnius: Diese und andere Städte wurden 1939 von den Brüdern Schaul und Yitzhal Goskind in einem Film dokumentiert, um das Leben in großen jüdischen Gemeinden zu zeigen. Dazu gehörte auch die im Osten Polens gelegene Stadt Bialystok: Mehr als die Hälfte ihrer Einwohner waren zu diesem Zeitpunkt jüdischen Glaubens.
Die Filmaufnahmen zeigen, wie vielfältig das jüdische Leben in diesen Städten und Gemeinden war, wenn auch antijüdische Angriffe keine Seltenheit waren. Zwei Synagogen, Schulen, kulturelle und soziale Einrichtungen, Firmen und Läden: Mit ihrer Arbeit leistete die jüdische Bevölkerung einen maßgeblichen Beitrag zum wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung Polens in dieser Zeit.
„A vital, vibrant jewish community“ – so fassen es die Produzenten zusammen.
Doch kaum etwas ist von dieser florierenden Kultur übrig geblieben.
Das Massaker von 1941
Am 27. Juni 1941, nur fünf Tage nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, rückten Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei in die Stadt Bialystok vor. Der Kommandeur des Kölner Polizeibataillons 309 erteilte seinen Männern den Befehl, die Stadt nach jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner zu durchsuchen. Nach diesen Razzien wurden 800 Jüdinnen und Juden auf dem Synagogenvorplatz versammelt, in der Synagoge eingeschlossen und das Gebäude umstellt, um jede Flucht zu verhindern. Mit Granaten und Benzinkanistern wurde die Synagoge in Brand gesteckt. Die in ihr Eingeschlossenen verbrannten bei lebendigem Leibe. Auch durch das auf die umliegenden Häuser übergreifende Feuer starben bei diesem Massaker etwa 2000 jüdische Menschen.
Dieses durch Polizisten begangene Massaker liegt an der Schwelle des Übergangs vom Massen- zum Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Nur 200 Jüdinnen und Juden aus Bialystok überlebten die nationalsozialistische Verfolgung, Lagerhaft und Mordaktionen. In der breiten Öffentlichkeit ist dieses Verbrechen jedoch kaum bekannt.
Im letzten Jahr jährte sich das Massaker zum 80. Mal. Aus diesem Anlass setzten sich Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus Schulen, Gedenkstätten und der Polizei in drei Online-Workshops mit den Entscheidungs- und Handlungsräumen der beteiligten Polizisten, Wehrmachtssoldaten, polnischen und betroffenen jüdischen Akteurinnen und Akteuren auseinander. Was bleibt von diesem Massaker, was von den Verfolgten und Ermordeten? Wie werden die Taten heute vergegenwärtigt?
Um die Spuren der von der Villa aus befehligten Täter nachzuverfolgen und die Erinnerung an die Verbrechen vor Ort zu diskutieren, sollte eine Bildungsreise nach Bialystok und Warschau Teil der Yad Vashem Lecture sein. Nachdem die für den letzten Herbst angedachte und durch die Landeszentrale für politische Bildung geförderte Reise pandemiebedingt verschoben werden musste, begaben sich nun unter der Leitung von Thomas Köhler und Andreas Kahrs Lehrkräfte sowie Mitarbeitende von Erinnerungsorten und Polizei auf Spurensuche zu den Verfolgungs- und Mordstätten in Polen.
Auf den Spuren jüdischer Geschichte
Ein Besuch im POLIN Museum mit einer Führung von Anita Borkowska bildete den Anfang der Reise und gab einen Einblick in die Entwicklung jüdischen Lebens in Polen. So erfuhren die Teilnehmenden viel über die Phasen kulturellen Aufschwungs und der Emanzipation, aber auch Diskriminierung und Entrechtung bis hin zur Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus, deren Tatorte die Teilnehmenden in den folgenden Tagen besichtigten.
Nur allzu deutlich zeigt das heutige Stadtbild Bialystoks, wie wenig von der einstigen Blüte jüdischer Kultur nach der nationalsozialistischen Verfolgung erhalten geblieben ist. Eines der wenigen noch vorhandenen Gebäude dieser Zeit ist eine ehemalige jüdische Schule, in der heute noch Veranstaltungen zu Gedenkanlässen stattfinden.
Im Gedenken an die im Synagogenmassaker ermordeten Jüdinnen und Juden legten die Teilnehmenden der Bildungsreise Blumen am Denkmal der ehemaligen großen Synagoge ab. Die scheinbar weniger zentrale Stelle des Denkmals in einem Hinterhof, nur durch Poller abgegrenzt von einem Parkplatz, regte Diskussionen über die Sichtbarkeit und Erinnerungskultur in Polen, auch im Vergleich zur deutschen Erinnerungskultur an.
Von Ghettoisierung und ersten Mordaktionen ...
Die Suche nach Spuren jüdischen Lebens und polizeilicher Täter führte die Teilnehmenden auf den jüdischen Friedhof Bagnówka und den Gedenkort im Wald von Pietrasze. Mit dem Ziel, die Mordaktionen weniger öffentlich stattfinden zu lassen, hatten die Polizeibataillone 316 und 322, die wenige Tage nach dem Massaker durch das PB 309 Bialystok erreichten, hier knapp 3.000 jüdische Männer durch Erschießungen hingerichtet. Bordsteine deuten heute die Massengräber an und machen, ebenso wie ein Obelisk, die Tat sichtbar.
Westlich von Bialystok befand sich mit der Stadt Tykocin ein weiteres Zentrum jüdischen Lebens in Polen, worauf heute etwa die entweihte große Synagoge im Stadtzentrum zeigt, die als Museum dient. Die Hälfte der 4.000 Einwohnerinnen und Einwohner vor dem Zweiten Weltkrieg war jüdischen Glaubens. Bereits vor der Einnahme der Stadt durch die deutsche Wehrmacht waren sie antisemitischen Angriffen und Plünderungen der polnischen antisemitischen Bewegung Narodowa Demokracja (“Nationale Demokratie”) ausgesetzt, die sich auch an der folgenden Verfolgungspolitik der Besatzer beteiligten. Die trotz der Gewalt und des Hungers in der Stadt verbliebenen Jüdinnen und Juden wurden am 24. August 1941 aufgefordert, sich auf dem Stadtplatz einzufinden und unter Vorspielung ihres Transports in das Ghetto Bialystok wenige Kilometer weiter im Wald von Łupochowa erschossen.
Anders als der Gedenkort von Pietrasze sind hier durch den Besuch vieler israelischer Gruppen deutlich mehr Erinnerungszeichen zu sehen und die Gedenksteine mit Flaggen Israels, Kerzen, Blumen, Steinen und Fotos bestückt.
... bis hin zum Massenmord in Vernichtungslagern
Tausende Menschen kamen durch die schlechten Lebensbedingungen in den Ghettos und durch Mordaktionen alleine in diesen Städten ums Leben. Nur wenige hatten das Glück, auch die Liquidierungsaktionen 1943/44 zu überleben, in denen die Ghettos geräumt werden sollten. Im Rahmen der sogenannten “Aktion Reinhardt” wurden hunderttausende jüdische Menschen seit 1942 in eigens zu diesem Zweck errichteten Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka umgebracht. Etwa 900.000 der insgesamt ca. 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden in den besetzten polnischen Gebieten wurden allein in Treblinka vergast. Heute verweisen in der Gedenkstätte Gedenksteine auf die Städte, aus denen die Ermordeten stammten. 17.000 solcher Granitblöcke, teils auch ohne Namen, vergegenwärtigen das Leid und erinnern an die Ermordeten.
Findlinge zeichnen die ungefähren Grenzen des Lagers nach. Von der Begrenzung abgesehen lässt sich die Topographie des Lagers nur durch die Berichte von Überlebenden erahnen, nicht aber gesichert rekonstruieren, da die Deutschen das Vernichtungslager vollständig niederbrannten, nachdem die Vernichtungsstätte ihre Aufgabe erfüllt hatte.
Wenige Menschen schafften es, aus dem Lager oder während ihrer Deportation zu fliehen. Auf ihrer Flucht kehrten sie häufig zurück in die Ghettos, aus denen sie deportiert worden waren, und berichteten von den Bedingungen und Mordaktionen, die sich in den Vernichtungslagern zutrugen. Als Reaktion auf Ermordungen im Ghetto und Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka organisierte eine Widerstandsgruppe in Bialystok einen fünftägigen Aufstand, wie sich bereits auch die Bewohnerinnen und Bewohner im Warschauer Ghetto mehrere Wochen lang zur Wehr gesetzt hatten.
Was bleibt? Überlieferung und Vergegenwärtigung
Über die Lebensbedingungen im Ghetto, Erschießungen, die Radikalisierungen und aufgeregte Stimmung vor den schrittweisen Räumungsaktionen des Ghettos, die Deportationen und Mordlager schrieben Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto, sammelten Berichte und schrieben ihre eigenen alltäglichen Erfahrungen von Verfolgung und Gewalt nieder. Unter der Leitung von Emanuel Ringelblum fertigten sie ein Archiv an. In Kästen und Milchkannen vergraben wurden die Berichte wenige Jahre nach Kriegsende gefunden und werden heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Das Institut und eine Führung über das ehemalige Ghettogelände durch Anita Borkowska bildeten den thematischen Abschluss der Reise und ließen wieder die Frage aufkeimen: Was bleibt?
Den Teilnehmenden blieben in jedem Fall zahlreiche Eindrücke und ebenso viele neue Fragen im Kopf über die Wege, das Geschehene pädagogischen Arbeit zu thematisieren, aber auch über eigenes berufliches und privates Handeln. Sicher ist, dass es noch einige Wochen brauchen wird, sie zu beantworten und zu verarbeiten.
Bericht: Jule Richter