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Literaturline
Lesung März 2016
»Die letzte Fassade« - Burkhard Spinnen über die Demenz seiner Mutter
Im vergangenen Monat erschien Burkhard Spinnens bewegendes Buch »Die letzte Fassade: Wie meine Mutter dement wurde« (Herder Verlag, Freiburg), das sowohl thematisch als auch in seinem autobiografischen Ansatz einem aktuellen Trend zu entsprechen scheint: Mit dem Voranschreiten der »Volksseuche Demenz« kehren die alten Eltern als pflegebedürftige, verwirrte Menschen zurück in das Leben ihrer Kinder.
So erlebt es auch der Schriftsteller Burkhard Spinnen: Das langsame Versinken seiner Mutter in die Demenz stellt den Sohn vor eine Aufgabe, die ihn Tag für Tag aufs Neue überfordert und sein Leben völlig durcheinander bringt. Unvermittelt verkehren sich alle Verhältnisse, die Mutter-Sohn-Beziehung erfährt eine radikale Veränderung. Dazu belastet die dauernde Konfrontation mit der Krankheit der Mutter den eigenen Lebensentwurf, insbesondere durch die unwillkürliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Grenze zwischen dem Charakter und der Krankheit der Mutter:
»Diese Suche geschah unwillkürlich, und ich denke, der normale Verlauf einer Demenz legt sie nahe. Der Erkrankte baut nämlich ab, er verliert geistige Fähigkeiten, er verändert sich; dennoch bleibt in ihm noch der zu erkennen, der er war. Und selbst wenn die Demenz Geistiges beschädigt, so nicht irgendeine unpersönliche Fähigkeit, sie schädigt und verändert vielmehr genau diesen und keinen anderen Charakter, dies und kein anderes Temperament. Daher ist wohl jede Demenzerkrankung auch anders, weil sie einen bestimmten und unverwechselbaren Menschen trifft, der in seiner ureigenen Art darauf reagiert.«
»Die letzte Fassade« ist beides, ein ungemein ehrlicher und selbstkritischer Bericht und eine gekonnte literarische Reflexion der Geschichte der Mutter und des Sohns gleichermaßen.
So verwundert es nicht, dass Burkhard Spinnen damit bisweilen Schleusen öffnet:
»Das geht mir jetzt häufiger so, dass Menschen in meiner Umgebung, stimuliert durch die Existenz oder die Lektüre meines Buches, ihre so überaus traurigen Erfahrungen mitteilen. Allmählich kommt es mir vor, als trügen jetzt auch wir, die Friedensgeneration, ein beinahe kollektives Trauma mit uns herum, gewissermaßen geerbt von der durch Geschichte und Krieg traumatisierten Generation.«
Burkhard Spinnen, geboren 1956 in Mönchengladbach, Studium der Germanistik, Publizistik und Soziologie in Münster, 1989 Promotion. Wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 1996 freier Schriftsteller in Münster. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.
Von 1998 bis 2000 lehrte er am Literaturinstitut der Universität Leipzig. Viele Jahre war er Mitglied der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt. Burkhard Spinnen ist Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland. Von 1997 bis 2000 hatte er eine Gastprofessur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Von 2000 bis 2006 saß er in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. 2008 bis 2010 war er dort Juryvorsitzender. Spinnen leitet Workshops zum literarischen Schreiben, u.a. an der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Neben seinen literarischen und essayistischen Texten schreibt Burkhard Spinnen Rezensionen und Glossen für Zeitungen und für den Rundfunk.
Preise und Auszeichnungen: u. a. 1991 aspekte-Literaturpreis, 1996 Kranichsteiner Literaturpreis, 1999 Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2004 Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld, 2008 Rheinischer Literaturpreis Siegburg.
Ausführliche Informationen über Burkhard Spinnen unter anderem bei Wikipedia:
de.wikipedia.org/wiki/Burkhard_Spinnen
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Burkhard Spinnen »Die letzte Fassade«