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Literaturline
Lesung Mai 2018
»Es ist mit einem Schlag alles so restlos vernichtet«
Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Münster - drei exemplarische Lebensläufe
"Es ist mit einem Schlag alles so restlos vernichtet" schrieb die jüdische Medizinstudentin Luise Charlotte Brandenstein am 12. Februar 1935 an ihre Freundin, nachdem sie erfahren hatte, dass jüdische Studierende nicht mehr zum Staatsexamen zugelassen wurden. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich ihre berufliche Zukunftsperspektive in Luft aufgelöst.
Luise Charlotte Brandenstein ist eine von insgesamt 81 Personen – Studierende, Lehrende und nichtwissenschaftliches Personal aller Fakultäten und der Verwaltung –, denen die Westfälische Wilhelms-Universität während der NS-Diktatur Unrecht getan hat. Auf Grund ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen, ihrer sexuellen Orientierung oder weil sie mit Juden verheiratet oder selbst jüdisch waren, wurden sie von der Universität entlassen, vorzeitig in den Ruhestand versetzt, vom Studium ausgeschlossen oder ihnen wurden ihre akademischen Titel ab- oder erbrachte Prüfungsleistungen gar nicht erst anerkannt.
Für die Betroffenen bedeutete dies häufig das Ende ihrer beruflichen Laufbahn, zumindest in ihrer Heimat Deutschland. Ihnen und ihren Angehörigen wurde die Lebensgrundlage entzogen, ihr bisheriges soziales Umfeld schloss sie aus und sie waren vielfältigen Diskriminierungen, Schikanen und Demütigungen ausgesetzt.
Einige von ihnen konnten durch Emigration, Abtauchen in den Untergrund oder Rückzug aus der Öffentlichkeit zumindest ihr Leben retten, andere wurden von den Nationalsozialisten umgebracht.
Heutige ältere und jüngere Studierende der Universität Münster haben die Lebensgeschichten dieser und weiterer 29 Personen erforscht, bei denen sich der anfängliche Verdacht, ihnen sei durch die Universität Münster Unrecht getan worden, nicht bestätigt hat. Gleichwohl wurden viele von ihnen später Opfer anderer Institutionen des NS-Staates.
Die Veröffentlichung dieser insgesamt 110 sehr verschiedenen Biographien holt die Opfer nicht nur aus der Anonymität des Vergessens und ermöglicht konkretes Gedenken, sondern sie vertieft auch das historische Verständnis für die Mechanismen von Ausgrenzung und Verfolgung.
Der von Sabine Happ und Veronika Jüttemann herausgegebene Band entstand auf der Grundlage des Gedenkkonzepts "flurgespräche", das die Betroffenen im Jahr 2015 wieder ins Bewusstsein rückte und ihre Lebensgeschichten erzählte. Das Buch ist im März 2018 in der Schriftenreihe des Universitätsarchivs erschienen.
"flurgespräche"
Das Konzept der "flurgespräche" beruht auf der Arbeit von Studierenden der WWU, die drei Semester lang die Lebensgeschichten der Betroffenen erforschten und zu Papier brachten. Auf Grundlage der Lebensläufe entwickelten zwei Design-Studentinnen der Fachhochschule Münster, Laetitia Korte und Lara Ludwigs, im Rahmen ihrer Bachelorarbeiten das Gedenkkonzept. Ein wesentlicher Bestandteil waren 20 Installationen, die auf den Fluren sieben verschiedener Gebäude der Universität gezeigt wurden: Projektionen von Türen verwiesen auf verlassene Büros. Daneben angebrachte Türschilder, mit einer interaktiven Audio-Funktion ausgestattet, luden den Betrachter dazu ein, in einen Dialog mit den Verfolgten einzutreten. Die Installationen waren in den Fachbereichen aufgebaut, an denen die Verfolgten einst tätig waren. Zusätzlich zu den Installationen entstand eine dauerhaft zugängliche Website.
In der LiteraturLine zu hören sind die folgenden Biographien:
- Luise Charlotte Brandenstein, verfasst und gelesen von Otto Gertzen
- Rosa Salomon, verfasst und gelesen von Irmgard Walbaum
- Ida Wangemann, verfasst und gelesen von Theresa Rudolph
Otto Gertzen, 1948 geboren, pensionierter Geschichtslehrer, 42 Jahre als Lehrer an zwei Gesamtschulen tätig, zumeist in der Oberstufe. Seit dem WS 2013/14 Teilnehmer am Studium im Alter.
Irmgard Walbaum, 1951 in Burgsteinfurt geboren. Abitur am Gymnasium Arnoldinum, Studium an der Pädagogischen Hochschule in Berlin, dann ein langes Lehrerinnenleben an einer Ahlener Hauptschule, Schwerpunktfächer Chemie und Physik. Immer schon an Geschichte und Politik interessiert hat sie beim Studium im Alter das so genannte "Forschende Lernen" im Bereich Geschichte für sich entdeckt, weil man hierweitgehend selbstständig arbeitet und Neues, bisher Unbekanntes entdeckt.
Theresa Rudolph, 1991 in Mettingen geboren, studiert seit 2011 an der WWU Münster (mit einem Studienaufenthalt 2016/17 an der Sapienza – Università di Roma) Geschichte, Latein und Bildungswissenschaften. Sie hat bereits an mehreren lokalgeschichtlichen Schreib- und Rechercheprojekten mitgewirkt.
Jetzt anhören:
Otto Gertzen liest die Biografie von Luise Charlotte Brandenstein.
Irmgard Walbaum liest die Biografie von Rosa Salomon.
Theresa Rudolph liest die Biografie von Ida Wangemann.