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Literaturline
Lesung März/April 2020
Herta Müller liest aus »Im Heimweh ist ein blauer Saal«
Beim 21. Internationalen Lyrikertreffen Münster im Mai 2019 stellte die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ihren Lyrikcollagenband »Im Heimweh ist ein blauer Saal« (München: Carl Hanser Verlag 2019) vor, sie las eine Auswahl ihrer Miniaturen und zugleich waren die Collagen, Kunstwerke mit ganz eigenem Charme, als Projektionen zu sehen.
»Kurz nachdem ich aus Rumänien kam, war ich viel unterwegs. Ich wollte mich bei Freunden melden«, heißt es im Vorwort. »Aber die Ansichtskarten hatten so gräßlich mißratene Farben. Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug mit der Nagelschere aus der Zeitung ein Schwarzweiß-Bild und Wörter auszuschneiden.« Fortan dichtet sie mit Schere und Papier. Herta Müllers berühmte Collagen sind beides zugleich: Kunstwerk und Gedicht, Spiel und poetischer Ernst. Und unversehens taucht im geklebten Gedicht das auf, worum es eigentlich geht: die Wirklichkeit – denn »vielleicht haben auch Wörter ein schimmerndes Gemüt und betreiben Amtsmissbrauch…« Herta Müller befreit die Wörter aus ihren Rahmen und Sätzen und schenkt ihnen ausgeschnitten und neu arrangiert eine andere Bedeutung, ein neues Leben. Am heimischen Küchentisch schnitt sie zunächst die Wörter aus. »Ich legte sie aufs Hackbrett, damit man sie, wenn wir essen wollten, aus der Küche wegtragen kann. Doch Wörter expandieren. Deshalb musste ich einen großen Tisch für sie benutzen, einen quadratischen, um den man herumgehen kann, damit man sie alle sieht«.
In einem ausführlichen Gespräch mit Hermann Wallmann, dem künstlerischen Leiter des Lyrikertreffens, gab Herta Müller Einblicke in ihre außergewöhnliche Arbeitsweise mit Klebestift und Nagelschere. Beides, Lesung und Gespräch, kann hier in der LiteraturLine nachgehört werden.
»Der sogenannte fremde Blick, der ihr attestiert werde, sei allerdings nicht geografisch, sondern biografisch bedingt. Er komme vom Verlust der Selbstgewissheit, den sie in Rumänien erlebt habe. Und dieser fremde Blick ist es, der ihre Romane und Wort-Collagen so einzigartig macht.« (Sandra Leis)
»Es reicht nicht aus, sie (die Collagen) zu hören. Man muss sie auch sehen. Aus einem Wort folgt das nächste. Aber nicht, weil der Satz schon feststünde, sondern gerade weil der Sinn von Wort zu Wort springt.« (Jörg Magenau)
»Herta Müllers zentrale Themen sind werkübergreifend in ihrem Prosawerk und auch in ihren lyrischen Arbeiten zu finden: Abschiede, Auswandern, Weggehen ohne je irgendwo anzukommen.« (www.lyrikline.org)
Herta Müller, geboren 1953 in Nitzkydorf im Banat, einem deutschsprachigen Teil Rumäniens, war nach ihrem Studium der deutschen und rumänischen Philologie an der Universität in Temeswar in den 70er Jahren zunächst als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik tätig. Dort wurde sie jedoch bald entlassen, da sie sich weigerte, für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten. Als sie 1978 ihr erstes Buch »Niederungen« fertig stellte, wurde es zunächst nicht veröffentlicht. Erst 1982 erblickte eine zensierte Fassung das Licht der Öffentlichkeit. Die Originalfassung hingegen konnte erst 1984 in Deutschland erscheinen. Die anhaltende Verhöre, Hausdurchsuchungen und Bedrohungen durch die Securitate zwangen sie dazu, 1987 nach Deutschland zu übersiedeln. Viele Jahre hatte sie Gastprofessuren in England, Amerika, Deutschland und der Schweiz inne. Heute lebt sie in Berlin. Seit 1995 ist Herta Müller Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Nobelpreis für Literatur 2009. Herta Müller habe »mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit« gezeichnet, heißt es in der Begründung der Jury. Im Jahr 2015 wurde die Schriftstellerin mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln und dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität und der Universitätsstadt Tübingen ausgezeichnet. Sie repräsentiere eine »virtuose Sprachgenauigkeit, eine klare Haltung und Unbestechlichkeit so überzeugend wie kaum jemand sonst«, auch finde man selten »einen so profunden Ausdruck von Fremdheitserfahrung wie bei Herta Müller«, begründete die Tübinger Jury ihr Urteil.
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Herta Müller liest eine Auswahl ihrer lyrischen Collagen aus »Im Heimweh ist ein blauer Saal«.
Herta Müller im Gespräch mit Hermann Wallmann beim Internationalen Lyrikertreffen 2019