Seiteninhalt
Paris – Palmyra
Jan Wagner und Nikola Madzirov
Briefwechsel, Prosa und Lyrik
Theater Münster: Kleines Haus
Sonntag, 3. September 2017, 11 Uhr
Begrüßung: Wendela-Beate Vilhjalmsson, Bürgermeisterin der Stadt Münster; Dagmar Fretter, Kunststiftung NRW
Moderation: Hermann Wallmann; Dolmetscherin: Alida Bremer
Lieber Jan,
… Europa war eine Konstante der literarischen Sicherheit, in ihm fanden viele Autoren ihr Zuhause, die vor dem Schatten ihrer Kindheit flohen. Eroberer tauschen die Namen von Staaten und Städten aus, nicht aber von Kontinenten. Ich wurde in einem Staat geboren, wuchs in einem anderen auf, wer weiß, in welchem ich sterben werde, ohne mich je vom Fenster des Hauses der Kindheit wegbewegt zu haben … Mein Nachname Madzirov bedeutet „Heimatloser“, und es hat sich so ergeben, dass ich ständig reise, dass ich in Städten mit anderem Staub erwache, diesem Körper der Zeit, wie Brodsky schreiben würde …
Lieber Nikola,
… ich schreibe Dir kurz vor Weihnachten und kurz nach dem Anschlag auf Berlin … Was soll man sagen? Vielleicht, denke ich, muß man in Zukunft versuchen, noch ein bißchen freundlicher zu sein, all dem Grauenerregenden zum Trotz, sollte man sich bemühen, dem ganz und gar Unsäglichen mit beharrlicher Offenheit und Zugewandtheit zu begegnen … In Neukölln trägt ein junger Mann einer älteren türkischen Dame ihren rotbraun karierten Hackenporsche eine Treppe hinunter. In der U-Bahn bieten gleich drei ausgekochte Neuköllner Tattoo-Gören der jungen Mutter, der eine Flasche Milch im Rucksack ausgelaufen ist, ein Päckchen mit Papiertaschentüchern an. Gerüchte von lächelnden Busfahrern machen die Runde … Mir selbst geht derweil ohne Unterlaß Peter Rühmkorfs Zeile „Bleib erschütterbar und widersteh“ im Kopf herum …
Aus: Interessante Zeiten, könnte man sagen. Fragile. Europäische Korrespondenzen. Zusammengestellt vom Netzwerk der Literaturhäuser. In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, hg. von Jürgen Krätzer, Bd. 265, 62. Jahrgang, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, S. 23 und 25
„Madzirovs Gedichte sind wie expressionistische Gemälde: voller starker, energischer Striche, sie scheinen aus der Imagination hervorzugehen und sofort zu ihr zurückzukehren, wie Tiere, die im Scheinwerferlicht eines Wagens auftauchen.“ Adam Zagajewski, zitiert nach Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung
„Jan Wagner als Analytiker einer durchrationalisierten technischen Welt, als metaphysischer Dichter – das ist erst der halbe Wagner. Denn Kritik und Metaphysik ergreifen uns nur dort, wo der Gedanke sinnlich wird und wir die Fülle der Welt erfahren. Wagner ist ein Dichter solcher Fülle.“ Harald Hartung, Laudatio zur Verleihung des Hölderlin-Preises am 21. Oktober 2011 in Tübingen
Jan Wagner, geb. 1971 in Hamburg, ist seit dem Erscheinen seines ersten Gedichtbands im Jahr 2001 als freier Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen tätig. 2017 erhält er den Georg-Büchner-Preis. Aus der Begründung der Jury: „Jan Wagners Gedichte verbinden spielerische Sprachfreude und meisterhafte Formbeherrschung, musikalische Sinnlichkeit und intellektuelle Prägnanz. (…) Aus neugierigen, sensiblen Erkundungen des Kleinen und Einzelnen, mit einem Gespür für untergründige Zusammenhänge und mit einer unerschöpflichen Phantasie lassen sie Augenblicke entstehen, in denen sich die Welt zeigt, als sähe man sie zum ersten Mal.“
Zuletzt erschienen u.a.: Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte 2001–2015. Berlin 2016; Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa. Berlin 2017.
Nikola Madzirov, geb. 1973 in Strumica, Mazedonien, hat drei Gedichtbände veröffentlicht. Er war Stipendiat in Berlin, an der University of Iowa und Gast in der Villa Waldberta in München. Er lebt in Mazedonien und ist als Lyriker, Essayist und literarischer Übersetzer tätig. Er erhielt u.a. den Hubert-Burda-Literaturpreis 2007.
Zuletzt erschienen u.a.: Versetzter Stein: Gedichte. Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann, München 2011.