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Paris – Palmyra
Stefan Hertmans
„Antigone in Molenbeek“. Szenische Lesung.
Deutsche Uraufführung
Hörsaal der Chirurgischen Klinik (UKM)
Samstag, 30. September 2017, 18 Uhr
Spiel: Carolin M. Wirth, Carsten Bender
Einführendes Gespräch: Stefan Hertmans, Hermann Wallmann
(Nuria:)
Warum dauert das so lange?
Wo wird das … das Ding mit meinem Bruder drin, gelagert?
Warum geben Sie mir nicht die Adresse?
Warum darf ich nicht, was jeder darf:
Meinen toten kleinen Bruder sehen?
(Polizist:)
Ruhig, meine kleine Nuria.
Alles wird gut.
Na ja, was weiß ich,
Vielleicht wird doch nicht alles gut,
Vielleicht wird nie mehr etwas gut.
Es gibt da … es gibt da ein kleines Problem mit Ihrem Bruder,
Das haben Sie sicher schon in den Zeitungen gelesen,
Oder im Fernsehen gesehen, nicht wahr?
Sie wissen doch, dass Ihr Bruder so eine Art
Staatsfeind ist, ähm, Entschuldigung, war.
Er hat ja nicht nur den Rechtsstaat verraten,
Sondern auch eure Gemeinschaft.
Wen wollen Sie dazu überreden, ihn hier irgendwo
Zu begraben? Auf dem Friedhof von Oud-Molenbeek möglicherweise?
Limousine und Pastor inklusive?
(Nuria:)
Das will ich ja gar nicht, Herr Polizist.
Ich werde ihn irgendwoanders hin bringen. Er muss seine Ruhe bekommen.
Und mein Kopf auch. Ich muss einen Ort für ihn finden.
Er spukt jeden Tag um mich herum.
Wie so eine Geister-Seele, wissen Sie, die keine Ruhe findet.
Aus: Stefan Hertmans, Antigone in Molenbeek. Aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm, 2016/2017
Alida Bremer: „Der Brüsseler Bezirk Molenbeek ist als eine Hochburg des Islamismus bekannt. Hier, wo ‚totes Wasser in alten Bleirohren singt‘, lebt Nuria, die in Brüssel Jura studiert und stolz auf ihren belgischen Pass ist. Doch ihre Schwesterliebe macht sie zu einer Antigone, der berühmten tragischen Gestalt der treuen Schwester aus dem altgriechischen Drama. So hilft uns die Literatur, über alle Grenzen hinweg wahrzunehmen, was wir lieber verdrängen wollen.“
Michael Krüger: „Wir sind nicht gleich. Unsere Chancen sind sehr verschieden, die Asymmetrie unter Menschen wie unter Ländern nimmt zu. Einer sagt: Beweg dich, damit man dich sieht! Stefan Hertmans sagt das Gegenteil: Beweg dich so wenig wie möglich, dann sieht der Tod dich nicht.“
Aus: Glückliche Wirkungen. Eine literarische Reise in bessere Welten. Mit einem Grußwort von Frank-Walter Steinmeier, hg. von Alida Bremer und Michael Krüger, Propyläen Verlag, Berlin 2017, S. 33
Stefan Hertmans, geb. 1951 in Gent, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Flämischen Kulturpreis für Literatur, dem AKO Literaturpreis und dem Spycher: Literaturpreis Leuk 2017. „Mit Präzision und Empathie beschreibt er, wie die Wucht der Geschichte in Biographien eingreift. Stefan Hertmans verfasst keine historischen Romane im klassischen Sinn: zum einen, weil er sein Schreiben aus heutiger Sicht reflektiert, zum anderen, weil Glaubenskriege, Flucht und Ausgrenzung als Stoffe so relevant und aktuell sind wie eh und je“, so die Jury.
Zuletzt erschienen u.a.: Der Himmel meines Großvaters. Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Berlin 2014; Die Fremde. Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Berlin 2017; Antigone in Molenbeek. Amsterdam 2017.
Carolin M. Wirth, geb. 1974 in Hamburg, wurde am Hamburger Schauspielstudio Frese ausgebildet. Es folgten ein Festengagement am Heidelberger Zimmertheater und Gastrollen in Hamburg und Bad Vilbel. Von 2004 bis 2012 war sie festes Ensemblemitglied an den Städtischen Bühnen Münster. Heute steht Carolin M. Wirth für verschiedene Theater und freie Labels auf der Bühne, unterrichtet Schauspiel und realisiert Lesungen für Erwachsene und Kinder.
Carsten Bender, geb. 1973 in Detmold, ist freier Schauspieler und Sprecher. 2008 gründete er das Theaterlabel „Gloster! Theaterproduktionen“. Bender hat ein Faible für Autoren mit eigenwilligem Sprachstil, z.B. Werner Schwab, August Stramm, Einar Schleef und Arno Schmidt. Aktuell steht er bei der Produktion „Die Ausgrabung – Operation Thoreau“ auf der Bühne; für Oktober 2017 ist ein Hölderlin-Programm in Vorbereitung.