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Paris – Palmyra
Stefan Hertmans
„Die Fremde“
Theater Münster: Theatertreff
Sonntag, 1. Oktober 2017, 11 Uhr
Moderation: Hermann Wallmann
Ich fahre von Brüssel über Doornik und Rijsel nach Rouen. Als ich am späten Nachmittag dort ankomme, sehe ich mich ein wenig in der Stadt um. Es ist Ende März, kalter Wind fegt über einen verlassenen Platz. In einem Straßencafé pöbeln ein paar britische Touristen. Ich gehe durch die Rue du Massacre, fotografiere das Straßenschild, kurze Zeit später befinde ich mich in der Rue aux Juifs – eine lange, gerade Straße mit zwei großen, einander gegenüberliegenden offiziellen Gebäuden. Jenes auf der rechten Straßenseite ist der Palais de Justice. Als man hier 1976 ein Parkhaus baute, stieß man bei den Grabungen auf einen großen, rechteckigen Stein mit einer kaum noch lesbaren Inschrift. Der Bauleiter ließ die Arbeiten sofort stoppen und ordnete an, vorsichtig weiterzugraben. Nach und nach wurden die Fundamente eines großen Gebäudes freigelegt. Archäologische Forschungen ergaben, dass es sich um Teile eines jüdischen Hauses aus dem elften Jahrhundert handelte. Eine Synagoge? Eine jüdische Schule? Ein Patrizierhaus? Es stellte sich heraus, dass Rouen einmal eine blühende jüdische Gemeinde besaß … Das Gebäude erwies sich als jüdische Schule – eine Jeschiwa.
Hier möchte ich meine Spurensuche beginnen. Eine Suche, die mich wie Vigdis Adelaïs – und ihren jüdischen Geliebten weit von zu Hause wegführen wird.
Aus: Stefan Hertmans, Die Fremde. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Hanser Berlin, Berlin 2017, S. 67
„Dieser grandiose Roman wird mich ab jetzt begleiten wie ein guter Freund. Die Fremde hat sich in meinem Kopf und in meinem Herzen eingenistet, als hätte ich ihre Geschichte selbst erlebt. Aus jeder Seite spricht eine Wahrhaftigkeit, wie nur große Literatur sie zu erschaffen vermag.“ Margriet de Moor
Stefan Hertmans, geb. 1951 in Gent, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Flämischen Kulturpreis für Literatur, dem AKO Literaturpreis und dem Spycher: Literaturpreis Leuk 2017. „Mit Präzision und Empathie beschreibt er, wie die Wucht der Geschichte in Biographien eingreift. Stefan Hertmans verfasst keine historischen Romane im klassischen Sinn: zum einen, weil er sein Schreiben aus heutiger Sicht reflektiert, zum anderen, weil Glaubenskriege, Flucht und Ausgrenzung als Stoffe so relevant und aktuell sind wie eh und je“, so die Jury.
Zuletzt erschienen u.a.: Der Himmel meines Großvaters. Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Berlin 2014; Die Fremde. Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Berlin 2017; Antigone in Molenbeek. Amsterdam 2017.