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Fundstück des Monats
November 2023: Sammelleidenschaft im Dienst der Propaganda
Abzeichen bei der Reichsstraßensammlung durch die Ordnungspolizei
Das aktuelle Fundstück repräsentiert ein Phänomen, das wir in harmloser Weise auch in der Gegenwart an deutschen Supermarktkassen erleben: die Sammelleidenschaft. Aus der heutigen Popkultur kennen wir vor allem Sammelhefte, die mit Panini-Bildern oder Anime-Spielkarten gefüllt werden. Doch schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Sammelbilderalben veröffentlicht, in die Bilder aus Zigarettenpackungen eingeklebt werden konnten. Diese waren auch in der NS-Zeit außerordentlich beliebt – genauso wie der damalige Trend, Abzeichen des Winterhilfswerks zu sammeln. Ein Setzkarton mit eben solchen Abzeichen ist unser Fundstück des Monats November.
Das Winterhilfswerk, gegründet im September 1933, organisierte Spendensammlungen auf der Straße und in Wohngebieten, deren Erlöse denjenigen zugutekamen, die dem rassistischen NS-Weltbild entsprachen. Das Regime profitierte in dreierlei Hinsicht: Es konnte die Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen auf die Bürger*innen umlegen; es konnte die Vorstellung einer solidarischen ‚Volksgemeinschaft‘ forcieren; und es konnte den Menschen, die schon aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, deren Ausgrenzung erneut vor Augen führen, denn die Spenden waren nicht für sie bestimmt.
Auch die Polizei mobilisierte jährlich ab 1934 am Tag der Deutschen Polizei zum Spenden: durch Konzerte der Polizeikapellen, Propagandamärsche von Polizisten, Verpflegung durch polizeiliche Feldküchen, Mitfahrten für Kinder, Filmvorführungen von Polizeiaufklärungsfilmen und sogar Nachstellungen von Verkehrsunfällen. In diesem Rahmen wurden auch thematische Abzeichen wie Verkehrszeichen verkauft, wie sie auch unser Fundstück enthält.
Welche Ausmaße diese Sammelleidenschaft annehmen konnte, zeigt ein historischer Zeitungsartikel, der in den Karton eingeklebt wurde: „Die Verkehrsabzeichen, die zu mancherlei Witzen Anlaß gaben, fanden reißenden Absatz – und manch einer wandelte als lebende Verkehrsschule durch die Straßen der Richtung des Einbahnpfeiles nach.“ Wahrscheinlich sind die Abzeichen als vermeintlich unpolitisches Material aus der NS-Zeit nach dem Krieg für den Verkehrsunterricht im Setzkarton angebracht worden. Dass solche Abzeichensammlungen über Jahrzehnte hinweg aufgehoben wurden, verrät, welchen individuellen Wert die Menschen ihnen beimaßen. Ähnliches belegen die in unserer Sammlung zahlreich vorliegenden Sammelalben mit Zigarettenbildchen, etwa von Hitler, aber auch von Olympia 1936 oder dem Aufstieg der NSDAP: Das mühsame Sammeln steigerte offensichtlich den individuell zugemessenen Wert. Sogar nach dem Krieg wurden sie aufgehoben, bevor sie ihren Weg in die Sammlung der Villa ten Hompel fanden. Dabei waren sie massenweise produziert und verbreitet worden: Zwischen 1936 und 1943 waren 2,39 Millionen des Albums „Adolf Hitler – Bilder aus dem Leben eines Führers“ im Umlauf.