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Fundstück des Monats
Februar 2025: Das „Luminal-Schema“ – Biografie eines Psychiaters und Massenmörders
Im Februar 1940 – also vor 85 Jahren – übernahm der Psychiater Hermann Paul Nitsche die Amtsgeschäfte der sogenannten Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen. Zeitgleich wurde Nitsche vom Organisator der ‚Aktion T4‘, Viktor Brack, mit der Entwicklung eines medikamentösen Verfahrens für die Tötung von Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen beauftragt. Das Fundstück des Monats steht stellvertretend für das Ergebnis dieses Auftrags: ein Fläschchen des Barbiturats „Luminal“.
In Leipzig-Dösen experimentierte Nitsche mit Überdosierungen dieses Medikaments, was zum Tod von mindestens 60 Patient*innen führte. Wenig später wurde das sogenannte „Luminal-Schema“ systematisch für Tötungen von Erwachsenen und Kindern eingesetzt. Diese Methode galt als unauffällig, da das Medikament seit 1912 als gängiges Beruhigungsmittel und zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt wurde. Auch heute ist es noch gebräuchlich. Überdosiert führte es zu gesundheitlichen Komplikationen wie Lungenentzündungen, die häufig tödlich endeten. Im Mai 1941 wurde Nitsche schließlich Obergutachter der ‚Aktion T4‘, bis er im Dezember 1941 schließlich deren medizinischer Leiter wurde. Obwohl die von Berlin (Tiergartenstraße 4) aus gesteuerte Aktion kurz zuvor auf Anweisung von Hitler offiziell eingestellt worden war, wurde die dezentrale Tötung von Erwachsenen, darunter auch KZ-Häftlinge, und Kindern in vielen sogenannten Heil- und Pflegeanstalten fortgesetzt, etwa mittels Nahrungsentzug oder Überdosierung von „Luminal“.
In kürzester Zeit hatte Nitsche somit weit über 70.000 Tote der ‚Aktion T4‘ mitzuverantworten. Weitere Zehntausende kamen durch nachfolgende dezentrale Tötungen hinzu.
Nitsche sprach sich schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten für die Unfruchtbarmachung von psychisch Erkrankten, auch gegen deren Willen, aus. Während der NS-Zeit wirkte er an Propagandamaterial mit, um die Zwangssterilisierungen und Morde an Patient*innen zu rechtfertigen. 1948 wurde er als Hauptangeklagter im Dresdner Ärzteprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Rückblick
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- November 2024: Verschollen, nicht vergessen – Ein Rotwein als Gedenkort
- Oktober 2024: Zwischen Gebrauchsgrafik und Propaganda: Sammelbilderalben „Olympia 1936“
- September 2024: Sprechen und Schweigen über NS-Zwangsarbeit
- Juni 2024: Historische Räume nutzen und brechen
- Mai 2024: Spuren eines Lebens – Das Tagebuch als Quelle
- April 2024: Die Nazis und die Autobahn
- März 2024: Die Illusion von Teilhabe – Ein Raumbildalbum über den ‚Anschluss‘ Österreichs
- Februar 2024: Luftschutz – Zivile Aufgabe und Propagandainstrument
- Januar 2024: Polizistenmord in der Hamburger Nachkriegszeit
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- November 2023: Sammelleidenschaft im Dienst der Propaganda
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- Juli 2023: Upcycling mal anders
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- März 2023: Zum Umgang mit Nazi-Relikten
- Februar 2023: Ein entnazifiziertes Schild?
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