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Forschung
Nachlass von Paul Wulf
Der Nachlass von Paul Wulf wird seit 1999 im Geschichtsort Villa ten Hompel verwahrt. Die gesammelten Unterlagen und persönlichen Habseligkeiten des Münsteraner Antifaschisten und Aufklärers kamen bereits kurz nach dessen Tod am 3. Juni 1999 in die „Villa“. Paul Wulf selbst hatte den Wunsch geäußert, dass sein Archiv nach seinem Ableben in einer öffentlichen Einrichtung weiterhin zur Verfügung stehen sollte. Wenig später stand fest, dass die Villa ten Hompel seinen Nachlass übernehmen und künftig nutzbar machen wird. Nach seinem unerwarteten Tod organisierte der noch während der Trauerfeier entstandene „Freundeskreis Paul Wulf“ unverzüglich die Übernahme der rund 30 Umzugskartons, die in Wulfs Wohnung zusammengepackt worden waren.
Bewertung und Erschließung des Nachlasses
Da die Übernahme des Nachlasses in die Gründungszeit des Geschichtsortes fiel, hat der Nachlass bis heute eine besondere Bedeutung für die Sammlung der „Villa“: Als „Depositum 001“ bildete er damals den Grundstock des bis heute stetig wachsenden Archivs. Der Nachlass wird in einem eigenen Raum im Dachgeschoss des geschichtsträchtigen Hauses aufbewahrt.
Die ehrenamtliche Sichtung durch den „Freundeskreis Paul Wulf“ und Mitarbeitende der Villa ten Hompel hat mittlerweile rund 30 Prozent des vorsortierten Materials erfasst und verfügbar gemacht. Derzeit kümmert sich unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin Karolin Baumann um die vollständige Erschließung und Digitalisierung des Nachlasses. Helfer*innen aus dem Ehrenamt unterstützen bei der Sichtung und Bewertung der vielen einzelnen Blätter.
Sammeln als juristische und emotionale Auseinandersetzung
Der Nachlass besteht aus den im engeren Sinne biografischen Dokumenten (z. B. Urkunden, Briefwechsel, Tagebucheinträge, persönliche Aufzeichnungen, Fotos), einer umfangreichen Literatursammlung inklusive einer Menge sogenannter grauer Literatur (Broschüren, Flugblätter, Rundschreiben), den selbstgefertigten Ausstellungsplakaten zur NS-Geschichte und deren Nachwirkungen sowie einer Fülle an Fotokopien und Exzerpten aus Zeitungs- und sonstigen Archiven, die als Fundus für Wulfs Ausstellungen fungierten.
Die umfangreiche Recherche- und Sammeltätigkeit Paul Wulfs ist als Teil seiner juristischen Auseinandersetzung mit Behörden und Gerichten zu sehen, mit denen er in seinem Kampf um Anerkennung und Entschädigung seiner Verfolgung zu tun hatte. Nachweislich war er bereits seit 1954 regelmäßiger Gast im Institut für Publizistik in Münster, um historische Zeitungen auszuwerten. Ein Leserausweis der Stadtbücherei Münster dokumentiert Buchentleihen, die Wulfs Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus bekunden. Und er entdeckte die Welt der Archive, in denen er über Jahrzehnte ein – nicht immer ernstgenommener – Stammgast blieb. Die im Nachlass gesammelten Materialien beziehen sich auf Themen rund um die nationalsozialistische Politik mit Schwerpunkt auf Eugenik, Rassenhygiene, sogenannte Euthanasie, doch auch die Nachkriegspolitik wird minutiös durch zusammengetragene Zeitungsartikel und eigene Aufzeichnungen dokumentiert und kritisch in den Blick genommen. Selbstverfasste Gedichte, Gedankensammlungen und Zeichnungen ergänzen die dokumentarischen Materialien an vielen Stellen und zeugen von Wut und Enttäuschung gegenüber verwaltungsseitigen Versprechen, die nicht eingehalten wurden.
Auf DIN-A1-großen Kartons positionierte Paul Wulf Kopien aus Archiven und Publikationen; so verknüpfte er z. B. zur Darstellung der NSDAP in Münster und Westfalen Auszüge aus dem Einwohnerbuch von 1941 mit Fotos (Kopien) und Namen von Funktionsträgern des NS-Regimes aus Lüdinghausen, Gelsenkirchen oder Bielefeld.
Solche Aktionen waren ungewöhnlich für eine Zeit, in der die Archive noch sehr reserviert mit Informationen aus der NS-Zeit umgingen.
Ein anderes Plakat präsentierte mit „Des Teufels Psychiater“ nicht nur den Schauspieler Gustav Gründgens als Mephisto mit Hakenkreuzfahne, sondern auch einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Wahrscheinlich getötet“, der auf Untersuchungen über das Schicksal kranker Kinder in der NS-Zeit verwies und damit indirekt auch biografische Bezüge zu Paul Wulf aufzeigte.
Ein Speicher alternativer Erzählungen
Ein Großteil der Sammlung liegt unsystematisch vor und bei zahlreichen kopierten Einzelblättern ohne Quellennachweis ist kaum mehr deren Herkunft auszumachen, sodass ein erneuter Archivbesuch für diejenigen, die sich mit den von Wulf recherchierten Themen beschäftigen wollen, eher nicht erspart bleibt. Der Wert des Nachlasses besteht vielmehr in seinem Dasein als Speicher alternativer Erzählungen, die Wulf in Eigenregie und ohne wissenschaftliche Ausbildung zusammengetragen und mit eigenen Gedanken und Emotionen verknüpft hat. So gleicht die Erschließung des Nachlasses einer Art Spurensuche – gleichermaßen durch die Biografie Paul Wulfs als Mikroperspektive und durch NS-Ideologie und deren Fortwirken in der Nachkriegszeit als Makroperspektive. Bei dieser Spurensuche finden sich einige abgelegene Quellen, auf die man in den großen Archiven heute vermutlich nicht mehr stoßen würde.
Rückblick: Die Person Paul Wulf
Paul Wulf (1921–1999) wurde als 16-Jähriger im Rassenwahn der Nationalsozialisten als angeblich „Schwachsinniger“ auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert. Unermüdlich wies er Zeit seines Lebens auf sein Schicksal hin und setzte sich für Entschädigung für sich und andere Betroffene ein. In Archiven suchte er lokalbezogen, aber auch bundesweit nach Kontinuitäten zwischen NS-Vergangenheit und Nachkriegsgesellschaft, insbesondere in der Ärzteschaft. In selbst gestalteten Ausstellungen vermittelte er seine Erkenntnisse auf emotionale, aber wissenschaftlich einwandfrei recherchierte Weise, und adressierte dabei insbesondere die jüngere Generation. 1991 wurde ihm für seinen Einsatz das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.
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