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„Erzähl mal...“ Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
"Mein Großvater hätte mich erschossen"
Was haben die eigenen Vorfahren eigentlich während der NS-Zeit gemacht? – Diese Frage bestimmte gleich zwei Veranstaltungen der Villa ten Hompel und der Landeszentrale für politische Bildung NRW am 8. Februar – sowohl den Tag über bei einer Yad Vashem Lecture als auch abends bei einer öffentlichen Lesung. Jennifer Teege, Enkelin Amon Göths, dem durch den Film ‚Schindlers Liste‘ bekannten Kommandanten des KZ Płaszów, gab dort Einblicke in ihre eigene Familiengeschichte: Als Kind einer Deutschen und eines Nigerianers zur Adoption freigegeben, entdeckte sie mit 38 Jahren durch Zufall ein Buch ihrer leiblichen Mutter mit dem Titel „Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?“. Diese Frage, sich gleichzeitig zu einem leiblichen Großvater und einer historischen Person zu positionieren, trieb auch sie um. Das hatte auch Auswirkungen auf die Beziehungen zu ihrer Großmutter, die Amon Göth bis zu ihrem Tod verklärte, zu ihrer Mutter, aber auch zu ihrer Adoptivfamilie und ihren jüdischen Freundinnen, die sie während ihres Studiums in Israel kennen gelernt hatte.
Doch nicht nur Jennifer Teege sprach über die Taten ihrer Familienmitglieder zur NS-Zeit und ihren Umgang damit. Als Einstieg in die Fortbildung waren die Teilnehmer*innen gefragt: Anhand von mitgebrachten Gegenständen gaben sie Einblicke in die eigenen Familiengeschichten und konnten so schon zu Beginn eine Methode erproben, die sich auch für die Arbeit mit Schulklassen eignet. Solche familienbiographischen Herangehensweisen besitzen Potential auch für Schüler*innen mit Einwanderungsgeschichte. Und durch die Großeltern und Urgroßeltern kann für Schüler*innen ein persönlicher Zugang zu der manchmal abstrakten NS-Geschichte entstehen. Dr. Oliver von Wrochem, Leiter der Gedenkstätte Neuengamme, konnte darüber auch aus seiner eigenen Erfahrung berichten: In Seminaren der Gedenkstätte werden solche Arbeitsansätze zur NS-Familiengeschichte ebenfalls verwendet.
Am Abend las Jennifer Teege öffentlich aus ihrem Buch. Das Interesse an der Veranstaltung war so groß, dass die Sitzplätze im Hörsaal der Universität Münster an der Johannisstraße nicht ausreichten. Die Lesung und auch das anschließende Gespräch mit Oliver von Wrochem als Moderator und dem Publikum waren sehr emotional und persönlich. Auf die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt, mit den eigenen Kindern über die NS-Familiengeschichte zu sprechen, erzählte Teege von ihren eigenen Erfahrungen: Wenn solche Fragen von selbst bei den Kindern auftauchten, sei auch ein guter Zeitpunkt, diese Geschichte altersgerecht zu vermitteln. Vor dem ersten Besuch bei ihrer Mutter habe sie schon mit ihren Kindern gesprochen und deutlich gemacht, dass ihr Opa schlimme Dinge getan habe, ohne zu tief auf den historischen Kontext des Nationalsozialismus einzugehen. Das interessierte auch das Publikum, in dem mehrere Generationen vertreten waren. Dass dieses so aufmerksam zuhöre, zeige ihr auch, dass jede*r etwas aus einer solchen Lesung mitnehme, gerade auch, weil sie mit keiner dezidierten Botschaft in solche Veranstaltungen gehe.
Angesichts der zahlreichen weiteren Fragen, die in der Kürze des Gesprächs gar nicht beantwortet werden konnten, bleibe, so ihr Appell, diese mit nach Hause zu nehmen, selbst weiter zu denken und mit Bekannten, Freunden und Familien zu diskutieren. Es zeigte sich, dass die Spurensuche in der eigenen NS-Familiengeschichte nicht nur uns als Team der Villa, sondern auch zahlreiche andere Menschen beschäftigt und bewegt.