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„Erzähl mal...“ Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Reden ist Silber, Schreiben ist Gold
Adalbert Hoffmann ist 1949 geboren. Er schreibt also über den Umgang mit Erinnerungen seiner Eltern. Er ist langjähriger ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Villa ten Hompel.
Ende Januar erinnerten meine Eltern sich und uns Kinder an ihren Hochzeitstag in Berlin 1938; aber was davor oder danach geschah, war mir nur sehr oberflächlich bekannt, ein paar Andeutungen hier, ein paar hingeworfene Sätze da. So scheint mir über dieser Zeit ein Nebel zu liegen, der sich nur hin und wieder für einen kurzen Augenblick lichtete. Ich frage mich heute, warum das so war. Eine wirkliche Antwort finde ich nicht. Das alltägliche, gelebte Leben war allemal wichtiger als Geschichten aus der Vergangenheit. Dazu kam wohl eine gewisse Scheu, darüber zu sprechen.
Mitunter erzählte meine Mutter von einem Schnellkurs als Luftschutzhelferin, mit Schutzhelm, Sandeimer und Feuerpatsche. Sie zog diese Blitzausbildung auf amüsante Weise ins Lächerliche, was sie ja wohl auch war. Ob sie das Geübte noch anwenden musste, weiß ich nicht, weil sie im Sommer 1943 mit meinen beiden älteren Schwestern Berlin verließ. Die Drei gingen nach Bromberg und in die Tucheler Heide. Manchmal erwähnte meine Mutter diese Orte; aber ich fragte nicht nach, was dort geschehen war.
Besonders bedauere ich, dass ich sie nie danach gefragt habe, was und wo sie vor ihrer Heirat gearbeitet hat. Auch als ich nach ihrem Tod in der Familie herumfragte, wusste niemand etwas von der Art ihrer Berufstätigkeit. Auf der Heiratsurkunde steht "Sekretärin", auf einem anderen Dokument "Angestellte". Möglicherweise war die Berufstätigkeit meiner Mutter keiner Rede wert, halt irgendwas mit Büro. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass es irgendein ganz besonderes NS-Büro war, über das man besser den Mantel des Schweigens ausbreitete.
Mein Vater erzählte, dass er Mitte 1937 als Jurist in die Heeresverwaltung eintrat und im Krieg eine Verwendung als Oberstabsintendant in Russland und Italien fand. Mein Eindruck war, dass er sich durchaus mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte, aber nur mit sich selbst. Er las manches Buch über die NS-Zeit und viele Jahre lang die Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Er holte sich Broschüren von der Landeszentrale für politische Bildung. Doch darüber sprachen wir nicht. Das galt auch für den Briefbeschwerer mit Elchkopf, ein Abschiedsgeschenk der 291. Infanteriedivision ("Der Elch"), der viele Jahre auf seinem Schreibtisch stand. Nach seiner Bedeutung fragte ich nicht.
Als es im Zuge der Corona-Maßnahmen nur wenig Ablenkung gab, sah ich die Gelegenheit gekommen, die Nebelwand ein Stück weit zu lichten, indem ich mich mit den noch vorhandenen Briefen, Fotos, Aufzeichnungen und Dokumenten meiner Eltern beschäftigte. Dabei nahm ich mir auch das mir schon bekannte Fotoalbum vor. Zwischen Hochzeitsbildern und Fotos von der ersten Wohnung meiner Elternfand ich auch Bilder von der SS: ein SS-Mann beim "Strippenziehen", eine fröhliche Hochzeit im Kreise uniformierter SS-Leute und einige mehr.
Besonders interessierte mich das Foto vom Ausflug des Charlottenburger SS-Nachrichtensturms im April 1934 in den Spandauer Forst. Auf mich wirkt(e) das Bild sehr entspannt: Ein paar SS-Männer machen irgendwo im Wald Rast. Einer (vorne rechts) raucht eine Zigarette und hält einen Flachmann in der Hand. Es sieht aus wie bei einem Klassenausflug älterer Semester, mein Vater vorne in der Mitte.
Statt mit seinen Kindern zu sprechen, schrieb mein Vater viele Jahre nach dem Krieg seine Erinnerungen auf. Ich konnte über seine SS-Zeit unter anderem folgendes lesen: "Im Grunde genommen waren die Reppener SS-Leute [zu denen mein Vater zuerst gehörte] recht harmlos. Mir ist nicht bekannt, dass in den fast 6 Monaten, die ich in R. dabei war, irgendeine Gewalttätigkeit gegen irgendjemanden vorgekommen ist oder auch nur eine Belästigung Andersdenkender oder von Juden. […] Ein wesentlicher Teil der Tätigkeit der SS war das Exerzieren, besonders das Üben des Parademarsches."
Auch von seiner Zeit bei der SS in Charlottenburg berichtet mein Vater nichts Aufregendes oder gar Anstößiges: In der 'Nacht der langen Messer', in der SA-Führer Röhm ermordet wurde,war er mit einem Umzug beschäftigt und während der Novemberpogrome war er schon nicht mehr in der SS. Zusammenfassend schreibt er:
"Der Sturmführer war zwar nicht angenehm, 'Alter Kämpfer', ich fand aber nette Kameraden […]. Es gab ab und an Schulungen, an üble Hetzereien, z.B. gegen die Juden, kann ich mich aber nicht erinnern. Der Ton war nicht schlecht. Die sonntäglichen Übungen im 'Strippenziehen' [→ Foto] machten allen Spass […]. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften wurde viel Zeit vertrödelt. […] Trinkereien gab es nicht. […] An den 'Sturmabenden' wurde das techn. Gerät instandgesetzt, an anderes kann ich mich nicht mehr erinnern."
Als mein Vater Heeresbeamter wurde, verließ er im Dienstgrad eines Rottenführers (Gefreiter) die SS. Er schreibt: "Ich war froh, dass ich auf diese Weise ohne Schwierigkeiten aus der SS ausscheiden konnte."
Die Erinnerungen meines Vaters zeichnen ein geradezu friedliches Bild von der SS. Ich habe den Eindruck, dass er die SS, so wie er sie erlebt hat, geradezu verteidigt. Aber es ging keineswegs nur um "Exerzieren", um "Vertrödeln von Zeit" und "Instandhalten von technischem Gerät." Auch gab es durchaus eine intensive weltanschauliche Schulung, bei der mit Sicherheit gegen jüdische Menschen gehetzt wurde. An diese dunklen Seiten der SS erinnert sich mein Vater nicht, ja er streitet sie für seine Zeit im SS-Sturm Reppen und Charlottenburg geradezu ab. Aber kann es ein richtiges Leben im falschen geben (Adorno)? Im Nürnberger Prozess wurde die SS als Verbrecherorganisation eingestuft. Aber wer wie mein Vater nur einen niederen Dienstrang hatte und zudem vor dem Krieg ausgeschieden war, wurde nicht belangt. Aber reicht es aus, die SS-Mitgliedschaft meines Vaters als Bagatelle abzutun?
Eines Tages sprach ich mit meiner Mutter beim Geschirrabwaschen in der Küche allgemein über NS-Verbrechen. Sie fragte mich: "Kannst Du Dir vorstellen, dass Vati daran beteiligt war?" Ich antwortete mit: "Nein, das kann ich nicht." Das gilt bis heute, aber sicher kann ich mir nicht sein. Immerhin hat sich der Nebel, der über der Familiengeschichte aus der NS-Zeit liegt, etwas gelichtet; aber verschwunden ist er nicht.