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„Erzähl mal...“ Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Einer, der es wagte, zu widersprechen
Andreas Kreimer (geb. 1958, derzeit 64 Jahre alt) trägt zum Projekt "Erzähl mal…" einen externen Text über seinen Großvater, Ferdinand Kreimer, bei.
Als Kind habe ich beim Mithören der Gespräche der Erwachsenen aus dem Krieg und der NS-Zeit irgendwann gefragt: "Was habt IHR denn da gemacht?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass alle mitmachten und keiner etwas dagegen tat. Wie konnte das passieren, die Verfolgungen, der Krieg an sich, vor allem aber die millionenfachen Morde, die Völkermorde?
Ich, Andreas Kreimer, konnte leider, da erst 1958 geboren, meinen Großvater nicht mehr befragen, der 1967 starb, als ich erst 9 Jahre alt war. Die Fragen kamen erst später, an meine Großmutter, Trientje Wilhelmine Kreimer, und meinen 1928 geborenen Vater, der auch Ferdinand Kreimer hieß und im Alter von 16 Jahren im Dezember 1944 zur Luftwaffe, Flugabwehr, eingezogen wurde.
Aber erzählen konnten sie, von ihm, meinem Großvater, mit verhaltenem Stolz, da er versucht hatte, die Menschen zu überzeugen, was da auf sie zukam, oder gar schon da war, und was ihm passierte: Mein Großvater, Ferdinand Kreimer, geb. am 2. November 1899 in Münster, arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er im Alter von 17 Jahren ein Jahr teilnahm, auf dem Bau, als Schlosser und im Ruhrgebiet im Bergbau, ab 1924 bei den Stadtwerken Münster als Fahrzeugschlosser, später als Busfahrer.
Die Familie, außer den Eltern zwei Kinder, wohnten nahe der Warendorfer Straße, am Pötterhoek, später Gerhardstraße, in einer bescheidenen Etagenwohnung. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen viele Arbeiterfamilien lebten, schlimmer aber noch die Lebenssituationen der Arbeitslosen in den Wirtschaftskrisen zur Zeit der Weimarer Republik, nicht zuletzt die fürchterlichen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, brachten ihn dazu, sich politisch zu betätigen.
Daher war er vor der sog. 'Machtübernahme' der Nazis aktiver Gewerkschafter. Er beteiligte sich an Wahlkämpfen, allerdings nicht mit Mandatserwartung, war aktiv durch Plakatierung, Mundpropaganda und Verteilung von Flugblättern. Nach den Wahlen 1932 hielt ihn auch die sog. 'Machtübernahme' 1933 nicht davon ab, weiter vor der Naziherrschaft zu warnen.
Meine Großmutter erzählte immer wieder von der Nacht vom 31. Januar 1935 auf den 1. Februar 1935 als die Gestapo die Wohnung stürmte. Sie fanden eine große Menge Flugblätter, die von meinem Großvater und anderen Aktivisten heimlich verteilt wurden und weiter verteilt werden sollten. Sie 'wagten' darin zu behaupten und zu fordern: "Hitler plant den Weltkrieg", „Nieder mit Hitler“, oder einfach "Es lebe die Freiheit".
Er war selbstverständlich kein Einzeltäter. Es soll sich um eine größere Gruppe gehandelt haben. In einem Artikel der Westfälischen Nachrichten vom 30. Januar 2021 wurde höchstwahrscheinlich genau über diese etwa 30-köpfige Gruppe berichtet, von ihren gleichlautenden Aktivitäten, einem führenden Kopf der Gruppe namens Arnold Münster, der "einen kommunistisch gesinnten Arbeiter kennenlernte", mit dem er Flugblattaktionen auf die Beine stellte. Als ich das vor zwei Jahren las, dachte ich mir, dass es sich bei dem Arbeiter nur um meinen Großvater handeln konnte. Arnold Münster und die Mitaktivisten wurden laut Artikel alle am 31. Januar/1. Februar 1935 verhaftet. Arnold Münster verurteilte man laut der Westfälischen Nachrichten zu acht Jahren Haft.
Nach mehreren Misshandlungen während der Vernehmungen durch die Gestapo, bzw. im Gerichtsgefängnis Recklinghausen, die zu bleibenden körperlichen Schäden führten, verurteilte man ihn als politischen Straftäter wegen "Vorbereitung des Hochverrats" zu einem Jahr Haft im Zuchthaus in Hamm. Er hatte das Glück im Unglück, dass der Bau von Konzentrationslagern noch nicht ausreichend fortgeschritten war.
Es war eine sehr schwere Zeit für die Familie, die sich von anderen Familienteilen unterstützen lassen musste. Das Arbeitsamt verweigerte ihm anfangs wegen der Haft als 'Politischer' die Arbeitsbewilligung. Später konnte er endlich als Kraftfahrer bei der Fa. Stroetmann, anschließend bei den Stadtwerken Münster arbeiten.
Ab 1938 zog ihn die Wehrmacht mehrfach zu Wehrübungen ein, aber als politisch Vorbestrafter wurde mein Großvater bald als "wehrunwürdig" angesehen. Dennoch ereilte ihn 1944 doch noch ein Einzugsbefehl: In schrecklicher Konsequenz seiner politischen Vorgeschichte zu einem Grenadierregiment zur "Frontbewährung". Obwohl er noch stark unter den Folgen der Gestapo-Misshandlungen litt, stufte man ihn als wehrdiensttauglich ein. Nach seinen Aufzeichnungen traf er an der Front aber auf Stabsärzte und Offiziere, die sich laut meinem Großvater Menschlichkeit bewahrt hätten. Man setzte ihn als Beifahrer auf einem LKW ein. So überlebte er wohl mit Glück diesen Einsatz. Nach dem Krieg stieß er bereits im August 1945 aus der Kriegsgefangenschaft kommend wieder zur Familie.
Meine Großmutter erzählte, dass die Besatzungsmacht (GB nach Abzug der USA) eine ihm zuerkannte Zuverlässigkeit als Gegner des NS-Regimes ggf. berücksichtigte, wenn durch seine Aussagen ehemalige NSDAP-Mitglieder, sich als nicht belastet in der NS-Zeit darstellen wollten, ausfindig gemacht werden konnten. Der Kreissonderhilfsausschuss Münster erkannte ihn am 8. März 1943 als politisch Verfolgten an. Die Bezirksregierung Münster beschied ihm mit Bescheid vom 23. Dezember1955 eine Entschädigung als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hob das Gerichtsurteil des Jahres 1935 im Jahr 1952 auf.
Er trat nach Wiedergründungen erst der KPD, dann der SPD Münster als Mitglied bei, zudem, da inzwischen wieder Mitarbeiter der Stadt Münster, bzw. Stadtwerke, der ÖTV und agierte dort schließlich als Fahrdienstleiter und von 1945 bis zu seinem Renteneintritt 1965 als Personalratsvorsitzender (resp. Betriebsratsvorsitzender). 1967 verstarb mein Großvater.
Ich konnte durch Forschung in alten Originalunterlagen in verstaubten Ordnern und Schachteln seine Geschichte, also einen Teil auch meiner Familiengeschichte, recherchieren, Erinnerungen korrigieren und Fakten nachlesen. Das schönste Relikt dieses familiären Dramas sind die durch ihn während der Gefangenschaft in Hamm geschnitzten Schachfiguren, die ich auch heute noch hoch in Ehren halte.
Hätte ich den Mut gehabt, noch 1935 das Regime anzuprangern und auch meine Familie zu gefährden? Ich bin mir da gar nicht so sicher! Aber ich bin mir sicher, dass mein persönliches 43-jähriges Engagement in einer Gewerkschaft, letztendlich als Vorsitzender eines Personalrates der Stadtverwaltung, durch das Vorbild der Erzählungen über meinen Großvater herrührte.
Man bleibe wachsam!