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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
„Wir sind alle verstrickt“
Vernetzungstreffen zur „unbewussten Geschichte“
„Wir haben alle eine Familiengeschichte. Und es gibt keine Neutralität in der Diktatur, wir sind alle verstrickt.“ So Dr. Iris Wachsmuth bei der Podiumsdiskussion anlässlich des Vernetzungstreffens von Gegen Vergessen Für Demokratie e.V. und dem Anne Frank Zentrum e.V. Das Treffen für Multiplikator*innen stand unter dem Thema „Rassismus und Antisemitismus in Familienbiografien und Alltagskultur“. Auf dem Podium wurde über Geschichten diskutiert, die gerne einmal vergessen werden: antisemitische Figuren an Kirchen, rassistische Benennungen von Straßen und eben auch die Verstrickungen der eigenen Familie in der NS-Zeit.
Karolin Baumann und Annina Hofferberth aus dem Geschichtsort Villa ten Hompel leiteten dort einen Workshop zu NS-Familiengeschichten. Die Teilnehmenden setzten sich mit konkreten Recherchewegen auseinander und waren von Fragen bewegt, die auch schon an anderen Stellen im „Erzähl mal“-Projekt der Villa ten Hompel geäußert worden waren: Die Großeltern zu jung, die Urgroßeltern zu alt; die Familie sei unpolitisch gewesen, lebte im ländlichen Raum, war nur in konfessionellen Milieus verankert oder hatte andere Bezugsgruppen als die Nationalsozialisten; oder es liegen nur wenige Unterlagen vor – lässt sich da überhaupt etwas herausfinden?
Die Antwort am Ende des Workshops: Ja, in all diesen Fällen können sich Recherchen zur eigenen Familiengeschichte über Archivanfragen oder Gespräche mit Angehörigen lohnen. Wie Iris Wachsmuth schon in der Diskussion sagte: Verstrickungen, Beteiligungen, Haltungen können verschieden ausgesehen haben, jede Familie hat sich in irgendeiner Form zum Nationalsozialismus verhalten. Und viele, die nicht auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reichs lebten, waren spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkriegs von Besatzung und Kriegsgeschehen betroffen oder erlebten die Einwanderung von Verfolgten. Ganz im Sinne von #Nazihintergrund (in Verkehrung des Wortes ‚Migrationshintergrund‘) – einem von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah geprägten Begriff – müssen diese internationalen Bezüge in einer postmigrantischen Gesellschaft berücksichtigt werden.
Schnell wird in der Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte deutlich, dass klare Zuordnungen zu Kategorien wie Täter*innen, Opfern und Mitläufer*innen oft unterkomplex sind. Sie können nicht helfen, die historische Situation in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen. Stattdessen lassen sich in den Biografien Grautöne entdecken, die begreifen helfen, dass mehrere Beweggründe nebeneinanderstehen können und sich größere Handlungsspielräume auch in einer Diktatur ergeben. Das schult den Blick für demokratiefeindliche Tendenzen und die Kontinuitäten, die bis heute existieren.
Das ergab auch die Feedbackrunde zum Abschluss: Alle Teilnehmenden sahen nicht nur den Wert einer eigenen Recherche, sondern auch die niedrigschwelligen Wege hin zu den Archiven oder den eigenen Verwandten. Deswegen ziehen Annina Hofferberth und Karolin Baumann ein positives Fazit nach diesem bereichernden Austausch. Sie fühlen sich ermutigt in ihrem perspektivischen Vorhaben, 2024 eine Workshopreihe zu Familienrecherchen anzubieten.