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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Familiengeschichte im Gespräch – Die Geschichte der Familie Vortkamp
Norbert Schücker (Jahrgang 1957) berichtet über ein Gespräch mit Hermann Vortkamp (Jahrgang 1930), in dem dieser sich an den Einfluss des Nationalsozialismus auf das Dorf- und Familienleben erinnert. Hermann Vortkamp wuchs im gleichen Dorf wie Norbert Schückers Vater August (geboren 1921) auf. Beide sind unabhängig voneinander nach dem Krieg nach Münster gezogen und haben sich dort angefreundet.
Aufgewachsen ist Hermann Vortkamp zusammen mit acht Geschwistern auf einem Bauernhof in der Nähe von Graes, einem 300-Einwohner-Dorf im Westmünsterland an der deutsch-niederländischen Grenze. Der Hof lag am Rand des Amtsvenn, einem Moorgebiet. Die Kinder wuchsen geprägt vom katholischen Glauben auf. Seine Eltern pflegten enge Verbindungen in die benachbarten Niederlande, weil eine Großmutter Niederländerin war. Seine Geschwister und er hatten daher viele Cousinen und Cousins in den Niederlanden. Er hob hervor, dass gerade seine Mutter, geboren 1903, eine sehr freundliche und fürsorgliche Art gegenüber den Mitmenschen hatte, egal woher sie auch kamen.
Er erinnert sich, dass jedes Jahr Sinti neben dem elterlichen Hof für geraume Zeit ihr Lager aufschlugen. Bei schönem Wetter feierte man draußen mit den Sinti-Familien und Nachbarn. Dies muss bis ungefähr 1937 so gewesen sein, weil in den späten 30er Jahren die Sinti-Familien nicht mehr kamen. Hermann Vortkamps Vater habe ihm lediglich erzählt, dass sie wohl wie jüdische Menschen in Lagern verschwänden. Dies ist eine frühe Erinnerung von Hermann Vortkamp an die Nazis, abgesehen von Hakenkreuzfahnen und Hitlerbildern in der Schule.
Zu jüdischen Menschen, so berichtet er, hatten sie dadurch Kontakt, dass der Vater, geboren 1897, Ferkel und manchmal auch Pferde an einen jüdischen Viehhändler aus Ahaus verkaufte. Man sprach, wie mit allen anderen Menschen im Dorf auch, Plattdeutsch. Die Verträge machte man per Handschlag. Es gab auch einen jüdischen ‚Kolonialwarenhändler‘, der regelmäßig auf den Hof kam und Kleinigkeiten wie Nähgarn, Einmachgummiringe oder Ähnliches an die Mutter verkaufte. Manchmal mussten die Kinder nach Ahaus fahren, um im Laden des jüdischen Kaufmanns Kleinigkeiten zu besorgen.
Vom Vater erfuhren sie später, dass der Viehhändler ihm erzählt habe, dass er wohl auf der Liste der Nazis stünde, er aber über die nahe Grenze in die Niederlande fliehen werde, um in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Der Viehhändler hat später geschrieben, dass er es mit seiner Familie in die USA geschafft habe.
Die Hitlerbilder im Klassenraum sollten ursprünglich die Kreuze ersetzen, wegen des Protestes der Eltern blieben die Kreuze dann neben den Porträts hängen. Allerdings wurden das alte Lehrpersonal durch neue Lehrerinnen und Lehrer ersetzt. Dies geschah teilweise schon vor der Einschulung von Hermann Vortkamp im Jahr 1937, wie er aus den Berichten älterer Dorfbewohner weiß (so hat es mir mein Vater, der neun Jahre älter war als Hermann Vortkamp, auch erzählt). Die neuen Lehrerinnen und Lehrern haben den Bauernkindern eine rosige Zukunft in den neuen Ländereien im Osten ausgemalt und damit die nationalsozialistische Lebensraumideologie propagiert. Wenn seine Geschwister und er davon zu Hause erzählten, winkten seine Eltern ab und meinten nur „Dumm Tüchs“ (dummes Zeug).
Im Dorf gab es mehrere Kinder mit Behinderungen, die in dieselbe Schule gingen und mit denen zusammen gespielt wurde. Sie gehörten einfach dazu. Mit einem Jungen aus diesem Kreis, Heinrich Wessling, war Hermann befreundet, er hat ihn regelmäßig nach Hause gebracht. Dieser ist dann wie andere vier Kinder auch später, etwa 1938/39, abtransportiert worden. Offiziell hieß es, sie kämen in eine Klinik in Münster, in der sie gepflegt werden könnten. Wenige Jahre später, mit dem Wissen der Predigten des Kardinals von Galen aus dem Jahr 1941, war im Dorf klar, dass sie umgebracht worden waren. Für Hermann Vortkamp war das eine einschneidende Erinnerung, für ihn war Hitler der Mörder.
Ab ca. 1941 mussten niederländische Zwangsarbeiter im Moor arbeiten. Nach der schweren Arbeit gingen sie über den elterlichen Hof ins Lager. Ab 1944 mussten zusätzlich osteuropäische Deportierte Gräben im Moor ausheben, die als Panzer-Sperren gegen die Alliierten dienen sollten.
Auf ihrem Weg über unseren Hof steckte Mutter ihnen regelmäßig Milch und Eier zu, weil sie wenig zu essen bekamen. Wenn mein Vater mahnte: „Gib nicht mehr ab als du hast“, entgegnete sie im Bewusstsein, dass zwei seiner älteren Brüder seit 1944 in französischer bzw. britischer Kriegsgefangenschaft waren: „Hoffentlich gibt es dort auch nette Leute, die ihnen helfen.“
Hermanns Bruder und er sahen eines Abends, dass das Wasser in einem Graben milchig war. Sie beobachteten dann, dass der Sohn der Nachbarfamilie, die alle Mitglieder der NSDAP waren, die Zwangsarbeiter abfing und sie zwang, die Milch, die sie von Hermann Vortkamps Mutter bekommen hatten, in den Graben zu schütten. Die Brüder haben das den Eltern erzählt. Daraufhin hat der Vater die Nachbarschaft, die bei den Bauern eine gegenseitige Unterstützung bei Ernten, Hochzeiten, Todes- und Notfällen bedeutete, aufgekündigt.
Hermann Vortkamp berichtet, dass seine Eltern sich zwar nicht gegen die Nazis aufgelehnt haben, durch ihre christliche Prägung sind sie dem Gedankengut aber zumindest nicht gefolgt und haben die Kinder nicht nach dieser Ideologie erzogen. Regelmäßig wurde sein Vater von der Nachbarfamilie aufgefordert, doch endlich in die Partei einzutreten. Er habe dies vehement abgelehnt mit dem Hinweis auf die verschwundenen Menschen und den Umgang mit den holländischen Verwandten im Grenzgebiet.