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Fundstück des Monats
Mai 2023: Wie lernt man Antisemitismus?
Die Broschüre "Das Kriegsziel der Weltplutokratie", unser Fundstück des Monats Mai, wurde 1941 im Zentralverlag der NSDAP veröffentlicht. Dieses zutiefst antisemitische Hasspamphlet war ein einflussreiches Lehrmittel im nationalsozialistischen Deutschland, insbesondere bei der ideologischen Indoktrination von Polizei und SS.
Die Propagandaschrift nutzt einen Text des US-Amerikaners Theodore Newman Kaufman und unterstellt diesem, ein Beleg jüdischer Vernichtungsabsichten zu sein. Kaufman gab unter dem Titel "Deutschland muß sterben!" (orig. "Germany must perish!") im Selbstverlag eine Broschüre heraus, in der er radikale Mittel für die Umsetzung seiner pazifistischen Grundüberzeugung forderte. Für den Fall eines Krieges zwischen den USA und Deutschland und eines Sieges der USA plädierte Kaufman für die Sterilisierung aller Deutschen, um die Welt vor deren in seinen Augen angeborenen Neigung zum Krieg zu bewahren. Die Schrift wurde in den USA kaum beachtet. Dennoch wurde sie von der Nazi-Propaganda als Plan aus dem inneren Kreis des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt ausgegeben und, da Kaufman Jude war, zu einem Dokument jüdischer Vernichtungsabsichten stilisiert. Nach der Veröffentlichung der Propagandaschrift 1941 begann eine antisemitische Kampagne des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unter der Leitung von Joseph Goebbels, die in Nazi-Deutschland ein breites mediales Echo fand. Zudem wurde das Pamphlet in der weltanschaulichen Erziehung der Polizei eingesetzt. Es war somit auch eine pseudo-ideologische Legitimation für die antijüdische Politik, die in den Holocaust mündete.
Unsere Ausgabe weist eine Besonderheit auf: Im Druckwerk finden sich auf nahezu jeder Seite Anmerkungen mit Bleistift, die vom ehemaligen Eigentümer stammen. Er lebte in Rollingen (frz. Raville), einer kleinen französischen Gemeinde, die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht besetzt worden war. Der Eigentümer notierte auf Deutsch und Französisch verschiedene Leitsätze, die er vermutlich aus ideologischen Schulungen übernahm. Auf der Titelseite steht beispielsweise in mehrfacher Wiederholung: "Wichtige Lebensregel: In den Unterhaltungen und Gesprächen mit anderen Leuten soll man höflich, kaltblütig, vorsichtig und ehrlich sein." Neben lektorierenden Anmerkungen und Hervorhebungen im Text finden sich auch Kritzeleien von Hakenkreuzen. Diese Ergänzungen zeigen auf eindrückliche Weise, wie intensiv sich einzelne Menschen mit den Propagandamaterialien auseinandersetzten.
Wir zeigen das neu erworbene Exemplar mit einordnendem Kommentar in unserer Dauerausstellung in der Villa ten Hompel. Unser Mitarbeiter Thomas Köhler hat kürzlich eine weitere Ausgabe anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Washingtoner USHMM in die dortige Sammlung übergeben. Dieses wichtige Zeitdokument, das die deutsche Täterperspektive eindrucksvoll widerspiegelt, verbindet also künftig die beiden Sammlungen.