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Fundstück des Monats
Juni 2023: Überleben für welchen Preis? Die Enteignung der Familie Hertz
Antiquarische Schmuckstücke finden sich in Schränken und Schubladen von fast jeder Familie. Was macht diese Objekte, unsere Fundstücke des Monats Juni, also so besonders? Wie bei vielen unscheinbaren Dingen in musealen Sammlungen ist es die Provenienz, also die Herkunftsgeschichte, die zu ihrer Einzigartigkeit beiträgt.
Die Schmuckstücke – ein Anhänger aus Elfenbein und ein schlangenförmiger Armreif – sowie die Tasche aus Schlangenleder stammen aus dem Besitz von Henriette Hertz, Münsteranerin und Shoa-Überlebende. Henriette Hertz wurde 1913 in Münster geboren und besuchte ab 1920 die Annette-Schule. Die jüdischen Wurzeln ihrer Familie empfand sie, die in einem katholisch geprägten Umfeld aufgewachsen war, stets als nebensächlich.
Ursprünglich hatte Henriette Hertz Modezeichnerin werden wollen. Ihre Begeisterung für Mode lässt sich anhand der erhaltenen Accessoires und zahlreicher Fotografien von ihr erahnen. Auch ein Nähetui ist aus ihrem Besitz überliefert. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten, die Henriette Hertz als Jüdin einkategorisierten, fand sie nach 1933 jedoch keine Lehrstelle in ihrem Wunschberuf.
Statt eine Modeschule zu besuchen, half sie ihrem Vater Dr. Albert Hertz in seiner Kanzlei. Die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik überlebte sie nur, da sie kurz vor ihrer geplanten Deportation 1942 unter falschem Namen untertauchen konnte.
Zuvor hatte Familie Hertz nahezu all ihr Hab und Gut abgeben müssen: 1937 musste Dr. Albert Hertz das Familienhaus in der Engelstraße verkaufen. Henriette Hertz zog mit ihren Eltern zunächst in ein kleineres Haus in der Prinz-Eugen-Straße. Bevor im Dezember 1941 die Deportationen der jüdischen Bevölkerung im Raum Münster begannen, starben die Mutter Klara Hertz und der Vater an schwerer Krankheit. Ihrer Mutter musste Henriette Hertz noch am Sterbebett die goldene Uhr abnehmen, da an ihrem Todestag die Ablieferungspflicht für Edelmetalle für Jüdinnen*Juden in Kraft trat. Am 21. Februar 1942 wurde ihr restliches Vermögen, unter anderem das Haus in der Prinz-Eugen-Straße, vom Deutschen Reich beschlagnahmt. Nur wenige Habseligkeiten konnte Henriette Hertz retten. Diese bilden neben privaten Fotoalben und Dokumenten ihren Nachlass, der heute in der Villa ten Hompel aufbewahrt wird.
Nach dem Krieg kämpfte Henriette Hertz für die Rückerstattung des entzogenen und geraubten Eigentums. Die ihr zugesprochenen Rückerstattungen deckten nur einen Bruchteil des Vermögens ihrer Familie ab. In einem Schreiben an das Wiedergutmachungsamt drückt sie ihre Verbitterung über die abwehrende Haltung des Finanzamtes in ihrem Rückerstattungsverfahren aus: Sie fühle sich "in die tiefste Nazizeit versetzt."
In Gievenbeck erinnert seit Mai 2020 der Henriette-Hertz-Weg an die Münsteranerin.