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Fundstück des Monats
August 2023: Das Fotoalbum als Erzählung – Erinnerungen eines Reservepolizisten
Inhaltshinweis: Das Fotoalbum enthält antisemitische Kommentierungen und Abbildungen.
Obwohl historische Fotoalben einen wesentlichen Teil der Sammlung der Villa ten Hompel ausmachen, wurde bisher keines als Fundstück des Monats vorgestellt. Das soll sich nun ändern: Dieses Exemplar stammt von einem Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 72. Wie zahlreiche Polizisten hat der namentlich nicht bekannte Mann seinen Einsatz in Mittel- und Osteuropa, in diesem Fall im besetzten Polen, fotografisch dokumentiert. Die Abzüge hat er in einem Fotoalbum zu einer Erzählung seines Kriegseinsatzes angeordnet und durch viele Bildunterschriften kommentiert.
Das Fotoalbum zeichnet in grober chronologischer Reihenfolge den Weg des Mannes von der Ausbildung als Reservepolizist 1938 über Stationierungen im polnischen Częstochowa (dt. Tschenstochau) 1939 und in Warschau 1940 nach. Es handelt sich also um einen Ausschnitt aus einer mutmaßlich andauernden Dienstzeit des Fotoalbumerstellers – näheres zu seiner Person lässt sich jedoch nicht feststellen. Das Bataillon war in Częstochowa massiv an der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung beteiligt, später auch an Misshandlungen und Tötungen.
Von April bis September 1940 war die Einheit in Warschau stationiert. Während der dortigen Einsatzzeit wurde die jüdische Bevölkerung gezwungen, sich in einem Stadtbezirk zu konzentrieren. Das Warschauer Ghetto wurde dann im Oktober 1940 durch Mauern und Tore hermetisch abgeriegelt, es war das größte jüdische Ghetto Europas.
Dominant sind Motive, die den "unblutigen militärischen Alltag"1 zeigen: etwa offiziell wirkende Gruppenaufnahmen und Fotos von Truppenbewegungen per Zug und zu Fuß. Aber auch Schnappschüsse von Weihnachtsfeiern, Freizeitausflügen und Sehenswürdigkeiten sind darunter. Diese Fotos wechseln sich immer wieder mit solchen ab, die unverhohlen den Kriegsalltag, Zerstörungen und Verbrechenskomplexe zeigen. Fotos, die wir heute als Zeugnisse des brutalen und menschenfeindlichen Vorgehens der Polizisten gegen die Zivilbevölkerung erkennen, präsentiert der Ersteller durch Bildkompositionen und Zusatztexte als Erfolgsleistung des Bataillons – beispielsweise Aktionen im Rahmen der sogenannten "Bandenbekämpfung".
Auch eine Parade vor dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler, der das Münchner Bataillon 72 Ende April 1940 in Warschau besuchte, wird festgehalten.
Sinnbilder der antijüdischen Vernichtungspolitik werden durch Aufnahmen von brennenden Synagogen und zerstörten jüdischen Geschäften Teil des Fotoalbums. Jüdinnen*Juden werden durch Bildkomposition und Zusatztexte als primitiv und bedrohlich repräsentiert – was einmal mehr den Versuch des Fotografen markiert, sich von einer vermeintlichen Andersartigkeit abzugrenzen und sich als überlegen zu positionieren.
Ein Foto, auf dem jüdische Menschen zu sehen sind, die beschlagnahmtes Eigentum zum Quartier der Polizisten tragen, ist mit dem zynischen Satz "Juden bringen ihre Gastgeschenke!" unterschrieben . Diese Beispiele verdeutlichen in eindrücklicher Weise die Perspektive des Erstellers auf das eigene Handeln. Aus heutiger Sicht irritiert das Verhältnis von Kriegsgewalt und Normalität bzw. Alltag, das auf den Seiten des Fotoalbums wie selbstverständlich zusammenkommt.
Das besondere an Fotoalben gegenüber Einzelfotografien ist, dass sie je nach Entstehungskontext häufig eine eigene Erzählung erzeugen, die sich durch die Zusammenstellung und Reihenfolge der Fotografien, durch Bildunterschriften und Zeichnungen sowie durch nicht-fotografisches Material wie eingeklebte Land- und Postkarten ergibt. Man könnte auch von einer Komposition oder Inszenierung sprechen. Genauso wie Einzelbilder erfordern Fotoalben einen differenzierten und quellenkritischen Blick: Oft lässt sich nicht nachvollziehen, wer das Foto zu welchem Zeitpunkt gemacht hat, was genau gezeigt wird und was außerhalb des von der Kameralinse Erfassten liegt. Zusätzlich verkompliziert sich die Lesart der Alben dadurch, dass Fotograf und Autor von Bildunterschriften oft nicht die gleiche Person sind und Fotoalben meist erst nach dem Krieg als "Erinnerungsstücke" erstellt wurden, jedoch meist, ohne dieses späte Entstehungsdatum festzuhalten. Die Aussagekraft eines Fotoalbums hängt also in hohem Maße von der ihm durch Erstellende und Betrachtende zugeschriebenen Bedeutung ab. Das sorgt nicht immer für ein besseres Verständnis der Kriegsrealität und ihrer Wahrnehmung durch die Beteiligten, sondern zeigt uns vielmehr eine subjektive Konstruktion der Erinnerung des Autors. In nicht wenigen Fotoalben finden sich zudem Lücken, also wurden Fotos im Laufe der Jahrzehnte entfernt, mutmaßlich um Verbrechenskomplexe etwa gegenüber Familienangehörigen nachträglich zu vertuschen.
Diesen Aspekten geht dezidiert Jürgen Matthäus vom USHMM Washington auf den Grund, dessen Aufsatz "Austauschbare Kriegsbilder" am 14. August in dem neuen internationalen Sammelband "Polizei und Holocaust. Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men", herausgegeben u.a. von unserem 2. stellvertretenden Leiter Thomas Köhler, im Brill Schöningh-Verlag erscheint.2
Literaturverweise
1 Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn u.a. 1998, S. 33f, zitiert nach Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010, S. 31. |
2 Thomas Köhler et al., Polizei und Holocaust. Ein Vierteljahrhundert nach Christopher Brownings Ordinary Men, Bielefeld 2023. |