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Fundstück des Monats
Oktober 2023: Trinken zum Erinnern, Trinken zum Vergessen?
Der Bierkrug eines Polizei-Gendarmen
Wer die Dauerausstellung der Villa ten Hompel kennt, hat vielleicht auch das Fundstück des Monats Oktober schon einmal gesehen: Es handelt sich um einen Bierkrug aus Keramik, der einem namentlich unbekannten ehemaligen Polizei-Gendarmen aus Münster-Hiltrup gehörte. Als Mitglied einer SS-Polizeidivision hat er den Krug vermutlich eigenhändig nach 1945 als Erinnerung an seinen „Auswärtigen Einsatz“ gefertigt.
Auf dem Krug ist die Route seiner Division durch das besetzte Europa in den Jahren 1941/1942 abgebildet, angefangen bei Paris bis in die ehemalige Sowjetunion. Der Weg ist weder maßstabsgetreu noch geografisch korrekt skizziert, vielmehr handelt es sich um ein Erinnerungsprotokoll des Weges durch die einzelnen Orte, in denen der Gendarm offenbar gewesen ist. Nachweislich wurden in diesen Jahren in den angegebenen Orten Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Jüdinnen*Juden, begangen. Man kann also zumindest davon ausgehen, dass der Mann Zeuge der gewaltsamen Aktionen des Vernichtungskriegs wurde. Ob er aktiv an Verbrechen beteiligt war, ist nicht belegt, kann aber nicht ausgeschlossen werden.
Vermutlich wird der Gendarm den Krug erst nach seinem Einsatz getöpfert und bemalt haben, um ihn als eine Art „Erinnerungsstück“ aufzubewahren. Diese Tatsache bietet viel Diskussionsstoff für Führungen und Bildungsformate der Villa ten Hompel, zusammengefasst unter der Frage: Was bewegt einen Menschen dazu, im Nachhinein diese Erinnerungen an womöglich eigene Taten dekorativ auf einem Gebrauchsgegenstand festzuhalten? Auch lässt sich anhand des Bierkruges ein Thema besprechen, das den Alltag in den besetzten Gebieten maßgeblich mitgeprägt hat: der exzessive Konsum von Alkohol. Trinkrituale waren eine beliebte Freizeitbeschäftigung von Mitgliedern der SS, Polizei und Wehrmacht im „Auswärtigen Einsatz“. Übermäßiges Trinken war nicht nur akzeptiert und im Kriegseinsatz tägliche Gewohnheit der deutschen Besatzer: Es wirkte zudem als Katalysator eines männlichen Machtrausches, beispielsweise in Bezug auf die Anwendung körperlicher und sexualisierter Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung und verfolgter Menschen. Zuletzt war der Alkoholkonsum auch Bewältigungsstrategie zum Vergessen dieser Verbrechen. Der Historiker Edward B. Westermann untersucht diese Zusammenhänge anhand historisch überlieferter Beispiele in seinem Aufsatz „Eine Geografie sexualisierter Gewalt“ und in seiner Monografie „Drunk on Genocide“.1
Literaturverweis
1 Edward B. Westermann: Eine Geografie sexualisierter Gewalt: Alkohol, Männlichkeit und Mord im „Osten“, in: Thomas Koehler, Juergen Matthaeus, Thomas Pegelow Kaplan, Peter Roemer: Polizei und Holocaust: Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men. Paderborn: Brill Schoeningh 2023, S. 59–72; ebd.: Drunk on Genocide. Alcohol and Mass Murder in Nazi Germany. New York: Cornell University Press 2021. |