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Objekt des Monats
November 2022: Ninas Brief aus dem Ghetto Lublin
Das Fundstück des Monats November steht im Zeichen des diesjährigen Orange Days am 25. November – dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus unserer Dauerausstellung „Geschichte – Gewalt – Gewissen“. Der handschriftliche Brief wurde von einer Frau namens Nina, Nachname unbekannt, 1942 im Ghetto Lublin verfasst. Sie berichtet ihrer Familie auf Polnisch:
„Meine Lieben (ich schreibe an Euch alle zusammen)! Bei uns braut sich etwas Schreckliches zusammen. [...] Bei uns herrscht Panik. Ich habe schreckliche Angst. Ich küsse Euch Nina. Einzelheiten im nächsten Brief.“
Der kurze Brief liest sich als bittere Vorausahnung: Kurz nachdem Nina ihre Befürchtungen aufgeschrieben hat, wurde das Ghetto Lublin gewaltsam aufgelöst. Die meisten Ghettobewohnenden, etwa 30.000, wurden zwischen dem 17. März und dem 11. April 1942 in Viehwaggons der Ostbahn durch Ordnungspolizisten des Reserve-Polizeibataillons 101 in das Vernichtungslager Belzec deportiert und dort getötet. Dies bildete den Beginn der „Aktion Reinhard“ – der systematischen Ermordung der im sogenannten „Generalgouvernement“ lebenden Jüdinnen und Juden. Von etwa 45.000 jüdischen Menschen, die vor dem Krieg etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Lublins ausmachten, überlebten weniger als 300 die nationalsozialistische Besatzung.
Jüdische Menschen wie Nina waren in den Ghettos in Mittel- und Osteuropa der Kontrolle und dem Terror des nationalsozialistischen Regimes schutzlos ausgesetzt. Häufig waren diese lediglich Durchgangsstationen in die Vernichtungslager. Männer und Frauen waren dort ähnlichen Formen der Gewalt ausgesetzt: Misshandlung, Hunger, Zwangsarbeit, Erniedrigung und schließlich Deportation und Tod.
Unzählige Frauen wurden aber zusätzlich Opfer sexualisierter Gewalt, die kein Nebenprodukt des Krieges war, sondern systematisch von den Nazis und ihren Kollaborateuren angewandt wurde. Die gewaltsame und sexualisierte Erniedrigung von jüdischen Frauen war eine Folge der entmenschlichenden Rassenideologie der Nazis und stellte eine scheinbar legitime Bestrafungsmöglichkeit dar, die insbesondere im besetzten Osten zumeist keiner sozialen oder strafrechtlichen Kontrolle unterlag. Auch nationalsozialistische Vorstellungen von hegemonialer Männlichkeit und Dominanz über Frauen trugen zu Sexualverbrechen bei.
Unweit der Platzierung des Briefes von Nina in Raum 3 unserer Dauerausstellung finden sich Feldpostbriefe von im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Ordnungspolizisten, die sich aufgrund ihrer Inhalte als Täterdokumente bezeichnen lassen. In den Briefen berichten die Polizisten ihren Familien vom dienstlichen Alltag und sparen dabei die eigene Teilnahme an Massenerschießungen und anderen Kriegsverbrechen, auch Vergewaltigungen, nicht aus. Geradezu schockierend sind dabei Zeugnisse von Massenmord und Gewaltexzessen direkt gefolgt von Liebesbotschaften an die Familie. Die Ehefrauen nahmen diese Schilderungen befürwortend zur Kenntnis und wurden damit zu moralischen Komplizinnen ihrer Männer. Auf diesem Weg konnten die Täter ihre Schuld mit nahestehenden Personen teilen und sich vergewissern, trotz ihrer Handlungen geliebt und akzeptiert zu werden. Dies erleichterte die völlige Normalisierung der Gewalttaten und des Völkermords durch die Nazis.