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Keine Normalität?
Während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hatten etliche Menschen Vertreibung, Verfolgung, Misshandlung und Zwangsarbeit erlebt. Für sie wurde der erhoffte Neuanfang nach Kriegsende durch psychische, physische und existenzielle Nöte erschwert. Das betraf vor allem als Jüdinnen und Juden verfolgte Menschen sowie ehemalige Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.
Hunderte jüdische Münsteranerinnen und Münsteraner waren verfolgt und in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager umgebracht worden. Als der Zweite Weltkrieg beendet und der Nationalsozialismus besiegt war, gab es nur wenige Überlebende, die in ihre Heimat zurückkehren konnten. Im September 1945 waren 38 jüdische Münsteranerinnen und Münsteraner von vormals über 400 Personen wieder in die Stadt gekommen. Sie standen in der Regel vor dem Nichts. Ihre Verwandten und Freunde waren ermordet, ihr Vermögen und ihr Besitz entwendet worden. Viele Verfolgte kehrten nicht in ihre Heimat zurück, sondern versuchten in anderen Ländern neuanzufangen.
Normalität für NS-Verfolgte?
Nach dem Krieg versuchten die Behörden, die Schicksale von NS-Verfolgten beziehungsweise vermissten Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen aufzuklären. Seit 1948 war dafür der International Tracing Service der Internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen zuständig. Die Stadtverwaltung musste unter anderem die Sterbedaten und Gräber der in Münster zu Tode gekommenen Menschen ermitteln und weiterleiten.
Zwar konnten jüdische Verfolgte, die in einem Lager inhaftiert gewesen waren, Entschädigung beantragen und somit zumindest eine finanzielle Grundsicherung erhalten, jedoch konnte es keine "Wiedergutmachung" für ihr Leid geben. Hinzu kam, dass der Antisemitismus nicht einfach mit dem Nationalsozialismus verschwunden war. Der jüdische Friedhof an der Roxeler Straße, der bereits während des Krieges durch Bomben schwere Schäden erlitten hatte, wurde im Dezember 1947 geschändet. Unbekannte brachen in die Leichenhalle ein, zerschlugen die Fenster der Gedenkhalle und entwendeten religiöses Inventar. Sogar die Fichten, die auf dem Friedhof gepflanzt worden waren, hatten die Einbrecher abgeschlagen und, wie die jüdische Gemeinde vermutete, als Weihnachtsbäume verwendet.
Mitglieder der jüdischen Gemeinde bei der Einweihung eines Gedenksteins für die 1938 zerstörte Synagoge, 1949
Jüdische Gemeinde nach 1945
Die jüdische Gemeinde umfasste 1948 51 Mitglieder. Da die Synagoge 1938 zerstört worden war, suchte die Gemeinde einen Raum für die Gottesdienste. Zunächst wurde dieser in den privaten Räumlichkeiten der Familie Goldenberg in der Prinz-Eugen-Straße 39 eingerichtet. Zu dieser Zeit gab es in Münster keinen Rabbiner, der als geistliches Oberhaupt der Gemeinde fungieren konnte. Ab 1949 diente das wiedererrichtete Gebäude der Marks-Haindorf-Stiftung am Kanonengraben als Gemeindezentrum. 1961 war schließlich der Bau einer neuen Synagoge fertiggestellt, die auf demselben Grundstück wie die alte Synagoge stand.
Nach und nach konnte sich das jüdische Leben in Münster wieder etablieren. In den fünfziger Jahren wuchs aufgrund von Rückwanderung die Zahl an Gemeindemitgliedern stark an. Zwischen 1950 und 1960 hatte sich die Mitgliederzahl auf 130 Personen verdoppelt. Gleichzeitig wurde auch das jüdische Sozial- und Kulturleben neu belebt, etwa durch Angebote des jüdischen Frauenvereins (Gründung 1953) oder der Jugendgruppe (Gründung 1956). Schrittweise versuchte man, zu einer neuen Normalität zu kommen.
Luftbild der Kaserne am Hohen Heckenweg, in der nach Kriegsende Displaced Persons untergebracht waren.
Displaced Persons
Schwierig war der Neuanfang auch für die Displaced Persons – die ehemaligen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Tausende von ihnen waren während des Zweiten Weltkriegs in Münster inhaftiert gewesen und hatten verschiedene, meist körperlich anstrengende Arbeiten leisten müssen. Sie waren häufig unterernährt, unzureichend gekleidet und mit vielen Menschen auf engstem Raum untergebracht worden.
Direkt nach der Befreiung kümmerten sich die Briten und US-Amerikaner im Land- und Stadtkreis Münster um die Versorgung der Displaced Persons. Sie erhielten medizinische Behandlung und zunächst höhere Nahrungsmittelrationen als die deutsche Bevölkerung. In ehemaligen Kasernen wie am Hohen Heckenweg oder in Gremmendorf richtete die britische Besatzungsbehörde Lager ein. In Mecklenbeck wurden Schulen, Häuser und Holzhütten für die Unterbringung der DPs benutzt. Schon im April 1945 führten die Briten erste Repatriierungstransporte durch, mit denen mehrere tausend Menschen zurück in ihre Heimat gebracht wurden. Für bestimmte Nationalitäten verzögerte sich die Rückkehr in die Heimat jedoch, teilweise um über ein Jahr. Die harten Lebensumstände im Lager sowie die traumatischen Erfahrungen während des Krieges entluden sich bei einigen Displaced Persons in den ersten Besatzungsmonaten in Plünderungen und Überfällen auf die deutsche Bevölkerung. Neuere Forschungen zeigen aber, dass auch die Kriminalität unter Deutschen in dieser Zeit anstieg.
Arbeit für Displaced Persons
Obwohl die britische Besatzungsmacht anfänglich strikt abgelehnt hatte, Displaced Persons für Arbeiten einzusetzen, änderte sie ihre Politik seit Herbst 1946. Da die Trümmerbeseitigung einen hohen finanziellen Aufwand bedeutete, wurden auch ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für die Arbeiten herangezogen. Anfänglich erhielten sie dafür einen höheren Lohn als Deutsche.
Die Displaced Persons trugen zu einem Großteil der Trümmerbeseitigung in Münster bei. Seit April/Mai nahm ihre Zahl in Münster jedoch stark ab. Die britische Regierung warb zwischen 1947 und 1948 viele Displaced Person an, um in Großbritannien zu arbeiten. 1949 fand ein internationales Übersiedlungsprogramm in Länder wie Australien und Chile statt. Für Personen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollten, waren diese Arbeitsangebote häufig besonders attraktiv. Dennoch befanden sich 1950 immer noch über 4.000 Displaced Persons in Lagern in und um Münster. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Zustände in den Lagern zumindest deutlich verbessert. Die Briten unterstützten den Ausbau von Kultur-, Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen. So wurden im DP Lager in Mauritz eigene Schulen eingerichtet und Weihnachtsfeiern für die Kinder veranstaltet. Im Lager Reckenfeld im Landkreis Münster gab es unter anderem einen polnischen Chor und Pfadpfindergruppen. Somit wurde versucht auch hier ein Stück Normalität wiederherzustellen und Perspektiven zu schaffen.
Ausweis eines D.P. (Displaced Person)
Konflikte
Elisabeth Hoemberg, die als Übersetzerin für die britischen Besatzungstruppen arbeitete, vermerkt im Juni 1945 in einem Eintrag in ihr Tagebuch einen Konflikt zwischen Besatzern und einigen Displaced Persons. Bei der Beerdigung eines D.P. war es beinahe zu einer Schlägerei zwischen britische Truppen und 200 demonstrierenden Polen gekommen.
Ein Zitat aus dem Tagebuch der englischen Übersetzerin Elisabeth Hoemberg vom Juni 1945 macht deutlich, dass es auch zu Konflikten zwischen den Besatzern und einigen Displaced Persons kam:
„Over the funeral of a D.P. to-day British troops and 200 demonstrating Poles almost came to blows. The first reports were received with the usual seeming indifference, but when the Poles entered the "Ring" at our end of the city and an ever increasing stream of battered and bleeding civilians came pouring into the office, the tension visibly increased.”
(Zitiert nach: Hoemberg, Thy people, my people, S. 242)