Der junge Puls einer geschichtsträchtigen Stadt
Über 1200 Jahre Geschichte auf dem Buckel – da dürfte eine Stadt wie Münster doch wirklich mal kürzer treten und ein bisschen Ruhe genießen. Aber nein. Was ist es, was da ständig pulsiert?
Eigentlich könnte Münsters Innenstadt komplett als Museum durchgehen – Ausstellungsstücke sind genügend vorhanden: Zeugnisse reicher Geschichte, ehrwürdige Kirchen, gediegene Kaufmannshäuser, prächtige Adelshöfe... Doch warum wollen sich Museums-Gefühle partout nicht einstellen? Selbst auf dem Prinzipalmarkt nicht, dessen Giebelpanorama nach historischem Vorbild wieder aufgebaut wurde? Das liegt vor allem an den Unmengen an jungem Volk, das die Stadt mit quirliger Vitalität füllt, auf Plätzen und Straßen, in Cafés und Läden, Kneipen und Clubs. Auch für Gäste ist es sofort zu spüren: Der Puls dieser geschichtsträchtigen Stadt – er schlägt aufregend jung.
Für diesen lebendigen Pulsschlag sorgen in allererster Linie die neun Hochschulen. Dabei nimmt Münster übrigens bundesweit eine besondere Stellung ein. Denn in Deutschland gibt es einerseits ausgeprägte Universitätsstädte – sie sind meist nicht übermäßig groß, Studierende stellen dort bis zu einem Drittel der Bevölkerung. Und dann gibt es Millionenstädte wie München oder Berlin, in denen deutlich über 100.000 Studierende leben. Aber eine Großstadt mit über 300.000 Einwohnern, von denen über 20% studieren – darin ist Münster einzigartig.
Die Folgen sind unübersehbar. Jahr für Jahr aufs Neue ziehen Münsters Hochschulen junge Gesichter, frische Köpfe und Talente in die Stadt. Und sie sickern überall ein – viele wissenschaftliche Einrichtungen verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet, in der Innenstadt beherbergt jedes vierte Haus eine Wissenschafts- oder Bildungseinrichtung. Zugleich sucht und schafft sich die junge Szene spannende Eigenräume. Um Neues auszuprobieren, oft an unerwarteten Stellen: Im alten Stadthafen oder dem angrenzenden Hansaviertel, in einer Industriebrache, in einem leerstehenden Bürogebäude. Manches nur temporär, als Zwischennutzung. Anderes hält sich, wird zu einem Kern, um den herum sich Neues kristallisiert.
Wie das aussieht? Zum Beispiel so: Eine Initiative von jungen Kreativen will an der Hafenkante einen alten Speicher zum gemeinwohlorientierten Kulturzentrum umbauen. Ob der Plan aufgeht und das nötige Geld zusammenkommt? Noch nicht ganz wasserdicht. Aber das jährliche Fest auf dem Hansaring – zur Unterstützung des Projekts initiiert – ist mittlerweile zu einem der angesagtesten Events der Stadt avanciert. Oder die Clublandschaft am Hawerkamp, die sich mit Festivals wie Vainstream oder Docklands zum Hotspot der bundesweiten Independent-Szene entwickelt hat. Und hier war niemand besonders überrascht, als die Leser einer Szene-Zeitschrift tatsächlich in Münster fündig wurden bei ihrer Wahl des beliebtesten Clubs Deutschlands– das Gleis 22 ist seit je für sein herausragendes Konzertprogramm bekannt.
Doch nicht nur vielversprechende internationale Aufsteiger sind es, die auf ihren Tourneen gerne das neugierige und aufgeschlossene Publikum in Münster testen – auch einheimische Talente drängen auf die Bühne: Nicht zuletzt die Musikhochschule versorgt Münsters Szene Jahr für Jahr mit hochklassigem Nachwuchs. Apropos Bühne: Selbst „die Bretter, die die Welt bedeuten“, bleiben vom jugendlichen Sturm und Drang nicht verschont. So zählt das Junge Theater Cactus zu den Aushängeschildern der Stadtkultur und gastiert regelmäßig auf bundesweiten und internationalen Treffs. Und die etwa im Dreijahresrhythmus stattfindenden „Neue Wände“ gelten als das bundesweit größte Spektakel studentischer Bühnenkultur.
Auch die Gründerszene profitiert von den vielen frisch hinzukommenden Köpfen: Etwa in der Gastronomie mit neuen Konzepten, viel veganer Küche oder z.B. syrischem “Fast Good”, das von jungen Geflüchteten angeboten wird. Kein Zufall auch, dass schon die Skater-Szene um Titus Dittmann einst von Münster aus ihren deutschlandweiten Aufstieg startete. Oder angesagte Startups wie der innovative Getränke-Lieferdienst Flaschenpost, die Accessoire-Designer Kapten & Son und das Online-Medium Perspective Daily.
Ob in Kultur oder Politik, ob in Gastronomie, Nachtleben oder Verkehr: Überall prägt dieser stete Zustrom an Frische Münsters Stadtleben. Nicht immer glatt und einförmig, schließlich trifft er auf das Gefüge einer historischen Stadt und ihrer Traditionen. Die dabei erzeugte Reibung sorgt für eine vitale städtische Betriebstemperatur. Das steckt an, hält lebendig – und bewahrt Münster vor musealer Erstarrung.
Interessante Daten und Fakten (vielleicht zum Nachhaken?)
- Mit einem Studierendenanteil von ca. 20% ist Münster Spitzenreiter der deutschen Großstädte mit über 300.000 Einwohnern.
- Auch Münsters Wirtschaft sorgt immer wieder für neuen Nachschub an jungen Gesichtern: Jährlich nimmt sie über 2.000 Jugendliche aus Stadt und Region in Ausbildung.
- Ihre vitalisierende Wirkung auf das Stadtleben haben Münsters Hochschulen erst im Gefolge der Bildungsreformen der 1970er Jahre entwickelt: Zum einen durch das immense Wachstum der Studierendenzahlen. Und wohl auch dadurch, dass nun mehr als bloß der Honoratioren-Nachwuchs für Nordwestdeutschland und Ruhrgebiet herangebildet wurde.
- Der Ansturm auf die Bildungs- und Wissenschaftsstadt hat auch seine Schattenseiten: Wohnraum ist in der Boomstadt Münster knapp – und teuer. Die Schaffung von neuem, bezahlbarem Wohnraum ist mittlerweile auf Platz 1 der städtischen Prioritätenliste gerückt.
- Mit der Jugend für Zukunft und Fortschritt? Naja, auch nicht immer. Die erste Ausgabe der Skulptur Projekte stieß 1977 zwar auf erbitterte Proteste von konservativen Alteingesessenen. Aber es waren linksalternative Studenten, die Hand anlegten und nächtens versuchten, Claes Oldenburgs große Billardkugeln in den Aasee zu rollen.
- Manakish heißt das syrische Fastfood, mit dessen Zubereitung und Verkauf das junge Projekt elbén syrischen Geflüchteten eine Brücke in den deutschen Alltag baut.
- Der Szene-Club Gleis 22 – übrigens in städtischer Trägerschaft – wurde von den Lesern des Musik-Magazins „Intro” 2018 zum beliebtesten Club Deutschlands gewählt, zum zweiten Mal in Folge. Seit Bestehen hat das Gleis ca. 2.500 Konzerte veranstaltet.
am-hawerkamp.de
b-side.ms
www.elben.org
www.gleis22.de
perspective-daily.de
barackemuenster.wordpress.com
www.vainstream.com
www.docklands-festival.de