Die "vergessenen" Verfolgtengruppen
Herkunft, Religion, politische Meinung, sexuelle Orientierung, Krankheit, soziales Umfeld – all das und vieles mehr konnten Gründe für eine Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime sein.
Nicht alle Verfolgtengruppen sind heute in demselben Maße Teil unseres gesellschaftlichen Gedächtnisses und unserer Gedenkkultur. Viele Verfolgtenschicksale wurden nach 1945 vergessen, oder verdrängt. Denn Vorurteile gegenüber den Angehörigen sozialer und ethnischer Randgruppen sowie sexueller Minderheiten hatten in der Bundesrepublik Kontinuität, deren Stigmatisierung und Ausgrenzung bestanden fort.
Die Betroffenen und ihre unter dem NS-Regime gemachten Erfahrungen stießen kaum auf öffentliches oder wissenschaftliches Interesse. Lange Zeit fehlten einflussreiche Fürsprecherinnen und Fürsprecher.
Eine staatliche Anerkennung des erlittenen Unrechts erfolgte oft erst spät. Nicht immer ging damit auch ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen einher.
Folgende Gruppen werden im Rahmen dieses Forschungsprojekts zu den "vergessenen Verfolgten" des Nationalsozialismus gezählt:
Homosexualität galt den Nationalsozialisten als ansteckende Krankheit, der man durch Verführung und Gewöhnung verfallen könne. Da sie das "gesunde Volksempfinden" von Sittlichkeit verletze, seien sexuelle Beziehungen zwischen Menschen gleichen Geschlechts eine Gefahr für die soziale Gemeinschaft.
Insbesondere männliche Homosexualität wurde zudem als ein Hindernis für die Zeugung von Nachkommen und somit für das Wachstum des deutschen Volkes gesehen. Der bereits seit dem Kaiserreich bestehende Paragraph 175 Strafgesetzbuch (StGB), der die "widernatürliche Unzucht […] zwischen Personen männlichen Geschlechts" unter Strafe stellte, wurde 1935 drastisch verschärft und sein Straftatbestand ausgeweitet. Auf Verstöße gegen den neu eingeführten Paragraph 175 a drohten nun langjährige Gefängnisstrafen. Unter Ziffer 3 manifestierte sich der vermeintliche Jugendschutz-Charakter des Paragraphen 175 a: Besonders die "Verführung" junger Männer unter 21 Jahren sollte bestraft werden.
Etwa 50.000 Männer wurden in den Jahren 1935 bis 1945 nach den Paragraphen 175 und 175 a verurteilt. Mindestens 30 davon stammten aus Münster oder waren dort wohnhaft. Wiederholungstätern drohte im Rahmen der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" die Einweisung in ein Konzentrationslager (KZ). Mit einem rosafarbenen Dreieck, dem "rosa Winkel", gekennzeichnet, standen sie im KZ am unteren Ende der Häftlingshierarchie. Schikanen und Misshandlungen waren sie sowohl vonseiten der Wachleute als auch vonseiten anderer Gefangener ausgesetzt. Schätzungen zufolge wurden insgesamt bis zu 15.000 Männer als Homosexuelle in KZs verbracht. Viele davon kamen dort zu Tode.
Um dem Schrecken der Lager zu entgehen, konnten sich von der Einweisung bedrohte Männer "freiwillig entmannen", sprich kastrieren lassen. Mindestens drei aufgrund der Paragraphen 175 und 175 a verurteilte Münsteraner "wählten" diese vermeintliche Alternative.
Die weibliche Homosexualität galt den Nationalsozialisten weit weniger als Gefahr für die Fortpflanzung des deutschen Volkes. Einen Tatbestand für eine strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen gab es daher formell nicht. Gleichwohl waren lesbische Frauen aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung politisch wie gesellschaftlich geächtet, wurden diskriminiert und vereinzelt auch in KZ eingewiesen. Die Mehrzahl lesbischer Frauen in den KZs war jedoch offiziell nicht wegen ihrer Homosexualität dorthin verbracht worden. Zumeist wurden sie aufgrund ihrer dem Regime als unangepasst geltenden Lebensweise zur Kategorie der "Asozialen" gezählt und mit einem "schwarzen Winkel" gekennzeichnet. Wie viele lesbische Frauen in den Lagern ums Leben kamen, ist nicht bekannt.
Nach 1945
Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus wurde Homosexualität in Deutschland als massive Bedrohung der, nunmehr vor allem kirchlich vorgegebenen, Sittlichkeits- und Moralvorstellungen betrachtet. Die strafrechtliche Verfolgung sexueller Handlungen zwischen Männern wurde durch die Gerichte der jungen Bundesrepublik vehement fortgeführt. In seiner Form von 1935 behielt Paragraph 175 unverändert Gültigkeit und bildete bis zum Ende der 1960er-Jahre die Grundlage für bundesweit rund 50.000, in Münster für mehr als 100 Verurteilungen. 1969 und 1973 wurde Paragraph 175 schrittweise entschärft und erst 1994 ganz aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Eine Rehabilitierung der Betroffenen und eine Aufhebung der Urteile geschah erst ab den frühen 2000er-Jahren. Seit 2017 besteht ein Entschädigungsanspruch für noch lebende Verurteilte.
Auch die Diskriminierung und indirekte Bestrafung lesbischer Frauen fand in der Bundesrepublik eine Fortsetzung. Während unverheiratete Frauen sozialpolitisch per se stark benachteiligt und somit in ihren Lebensentwürfen eingeschränkt wurden, drohte verheirateten Frauen, die ihren Ehemann für eine Frau verlassen wollten, der Verlust aller Unterhalts- und Versorgungsansprüche sowie der Entzug des Sorgerechts für eheliche Kinder.
Der Rechtsbegriff des "Berufsverbrechers" meinte in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen, denen man unterstellte, den Lebensunterhalt vornehmlich auf kriminelle Weise zu bestreiten.
Schon ab 1933 konnten Gerichte auf Grundlage des "Gewohnheitsverbrechergesetzes" wiederholt straffällig gewordene Personen auf unbestimmte Zeit der "Sicherungsverwahrung" überweisen. Spätestens nach einem Grunderlass des preußischen Innenministers aus dem Jahre 1937 wurden "Gewohnheits- und Berufsverbrecher" in großer Zahl in "polizeiliche Vorbeugungshaft" genommen und in Konzentrationslager (KZ) eingeliefert. An der Häftlingskleidung wurden sie mit einem grünen Dreieck, dem "grünen Winkel" markiert. Ab 1942 wurden auch "Sicherungsverwahrte" aus den regulären Strafanstalten in die KZs verlegt, wo sie der "Vernichtung durch Arbeit" zugeführt werden sollten.
Mit dem eher unspezifischen Sammelbegriff "asozial" bezeichneten die Nationalsozialisten hingegen all jene, die aufgrund einer dem Regime als unangepasst geltenden Lebensweise ihre Arbeitskraft und ihr Fortpflanzungsverhalten nicht dem absoluten Leistungsanspruch des Regimes unterwerfen wollten oder konnten. Meist stammten die betreffenden Personen aus unteren sozialen Schichten und waren häufig auf Mittel der kommunalen Fürsorge angewiesen: Bettlerinnen und Bettler, Personen ohne festen Wohnsitz, Erwerbslose ebenso wie Kleinkriminelle, Prostituierte, sexuell freizügig lebende und lesbische Frauen wurden als "minderwertig" und "gemeinschaftsfremd" deklariert. Auch Alkohol- und Drogensüchtige sowie Personen, die wiederholt wegen Geschlechtskrankheiten behandelt werden mussten, wurde pauschal ein "asoziales", "die Allgemeinheit gefährdendes" Verhalten unterstellt.
Im Rahmen von Razzien und "Aktionen", wie etwa der "Bettlerwoche" 1933 oder der Aktion "Arbeitsscheu Reich" 1938, kam es immer wieder zu großen Verhaftungswellen. Selbst nicht vorbestrafte Personen, die durch vermeintlich "asoziales Verhalten" angeblich eine Gefahr für die "Allgemeinheit" darstellten, konnten ab 1937 in "polizeiliche Vorbeugungshaft" genommen werden. In den KZs wurden "Asoziale" mit dem "schwarzen Winkel" markiert.
Schätzungen zufolge, handelte es sich insgesamt um 60.000 bis 80.000 Menschen, die in den KZs entweder als "Asoziale" oder "Berufsverbrecher" gelistet wurden. Wie viele von ihnen in den Lagern ihr Leben ließen, ist bisher unbekannt. Nicht weniger als 30 Münsteraner ließ das NS-Regime als "Berufsverbrecher" und mindestens weitere 13 Münsteranerinnen und Münsteraner als "Asoziale" in Lager sperren. Mehr als die Hälfte davon kam dort ums Leben.
Da die Nationalsozialisten "asoziales" und kriminelles Verhalten als Ausdruck einer erblichen moralischen Geistesschwäche betrachteten, wurden zahlreiche als "asozial" und kriminell stigmatisierte Personen ab 1934 auf Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zwangssterilisiert. In Münster betraf dies wohl mehr als 100 Menschen.
Nach 1945
Die nationalsozialistischen Verbrechen an "Asozialen" und "Berufsverbrechern" wurden nach 1945 kaum aufgearbeitet. Das Stigma "asozial" diente auch weiterhin dazu, den Betroffenen sozialer Missstände selbst die Schuld für ihre Lage zuzuweisen, sie auszugrenzen und zu "disziplinieren".
Erst im Jahre 2020 wurden Menschen, die zwischen 1933 und 1945 als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgt wurden, offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
Die rund 20.000 Sinti* und Roma*, die 1933 auf deutschem Reichsgebiet lebten, waren nach den Juden die zweite ethnische Minderheit, die von den Nationalsozialisten als "artfremde Rasse" ausgegrenzt und verfolgt wurde. Repressive staatliche Maßnahmen gegenüber Sinti* und Roma* hatte es bereits seit der Reichsgründung 1871 und in der Weimarer Republik (1918-1933) gegeben. Hatten diese Maßnahmen zunächst noch vor allem darauf abgezielt, die Angehörigen der Minderheit zu einer Abkehr von ihrer oft noch mobilen Lebensweise und zu einer Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft zu zwingen, geschah die "Bekämpfung der Zigeunerplage" – so die offizielle Losung – ab den späten 1920er-Jahren und erst recht unter den Nationalsozialisten unter rassistischen Vorzeichen.
Sinti* und Roma* waren aus Sicht des NS-Regimes geborene "Asoziale". Im Prinzip alle der von ihnen als "asozial" und "gemeinschaftsfremd" erachteten Eigenschaften sahen die Nationalsozialisten bei den Angehörigen der Minderheit erfüllt: Angeblich seien Sie "arbeitsscheu", lebten ohne festen Wohnsitz, bettelten, neigten zu übermäßigem Alkoholkonsum und zu Kriminalität. Vor allem Frauen – Sintizze und Romnja – galten als "triebhaft" und sexuell freizügig. Aufgrund ihrer "minderwertigen" rassischen Veranlagung seien Sinti* und Roma* nicht in den "Volkskörper" integrierbar.
In vielen Städten des Reichs wurden Sinti* und Roma* ab Mitte der 1930er-Jahre von der übrigen Bevölkerung getrennt und meist in den Randbezirken angesiedelt. Mancherorts brachte man sie sogar in bewachten Lagern unter. Sie wurden an der Ausübung ihrer Gewerbe gehindert und zu schlecht entlohnten Hilfsarbeiten verpflichtet. Mittel der öffentlichen Fürsorge wurden ihnen drastisch gekürzt. Ihre ökonomische Situation verschlechterte sich unter diesen Bedingungen binnen kurzer Zeit drastisch. Indessen wurden im Zuge von Razzien und Aktionen gegen soziale Außenseiter, wie etwa Bettler, Obdachlose oder "Arbeitsscheue", auch zahlreiche Sinti* und Roma* in Konzentrationslager eingewiesen und dort zur Arbeit gezwungen.
Gegen Ende der 1930er-Jahre ordnete das NS-Regime eine lückenlose Erfassung und zentrale Registrierung aller im Reich lebenden Sinti* und Roma* sowie mit Kriegsbeginn deren örtliche Festsetzung an. Ihren Wohnort durften sie fortan nur noch mit polizeilicher Sondergenehmigung verlassen. Zudem hatten sie sich spätestens ab 1941 einer "rassebiologischen Untersuchung" zu unterziehen. Auf vermeintlich wissenschaftlicher Basis sollte dabei "diagnostiziert" werden, ob es sich bei einer Person um einen "Zigeuner", "Zigeunermischling" oder "Nichtzigeuner" handelte. Registrierung, Festsetzung und rassische Kategorisierung ermöglichten dem Regime einen nahezu uneingeschränkten Zugriff auf Sinti* und Roma* und schufen die Grundlage für eine Radikalisierung ihrer rassistischen Ausgrenzung und Verfolgung sowie schließlich für ihre systematische Ermordung.
Zwischen Frühjahr 1943 und Sommer 1944 wurden aufgrund des sogenannten "Auschwitz-Erlasses" allein aus Deutschland und Österreich insgesamt rund 13.000 Angehörige der Minderheit in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Etwa 70 Prozent von ihnen starben dort an den Folgen von Mangelernährung und Krankheit oder wurden in den Gaskammern getötet. Insgesamt fielen dem Völkermord an Sinti* und Roma* mindestens 200.000 Menschen zum Opfer. Mehr als 40 davon waren in Münster geboren oder hatten hier gelebt.
Nach 1945
Die Überlebenden standen nach 1945 meist vor dem buchstäblichen Nichts. Ihre familiären und sozialen Strukturen waren häufig ebenso zerstört wie ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage. Zudem war das negative, rassistisch aufgeladene Bild des "Zigeuners" in der Mehrheitsgesellschaft weiterhin vorherrschend.
1982 wurden Sinti* und Roma* offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Gleichwohl haben rassistische Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Angehörigen der Minderheit bis heute Kontinuität.
Anmerkung: Das * verweist auf die kulturelle, soziale und geschlechtliche Vielfalt verschiedener Gruppen und Individuen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden.
Bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren – nicht nur in Deutschland – unter der Losung einer "Verbesserung der menschlichen Rasse" vermeintlich wissenschaftliche Theorien und Konzepte für eine gezielte Beeinflussung menschlicher Erbanlagen diskutiert worden. Ab 1933 bildeten die nationalsozialistischen Vorstellungen einer radikalen "Rassenhygiene" die Doktrin der deutschen Bevölkerungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik.
Neben jenen, die von den Nationalsozialisten wegen eines "moralischen Schwachsinns" als "asozial" und "gemeinschaftsfremd" erachtet wurden, legte es das Regime darauf an, Menschen "unschädlich" zu machen oder gar "auszumerzen", die aufgrund einer angeblich angeborenen und vererbbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit als "fortpflanzungsgefährlich" oder sogar als "lebensunwert" eingestuft wurden.
Ihr Ziel der "Reinigung des deutschen Volkskörpers" wollten die Nationalsozialisten nicht nur durch den Ausschluss von Angehörigen sogenannter "artfremder Rassen" wie etwa Juden oder Sinti* und Roma* umsetzen. Vielmehr sollte auch die eigene "Rasse" von allen aus Sicht der Nationalsozialisten "minderwertigen Elementen" befreit werden.
Am 1. Januar 1934 trat im Reich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) in Kraft. Fortan konnten "erbkranke" Personen, die an "angeborenem Schwachsinn", Schizophrenie, einer bipolaren Störung, Epilepsie, Chorea Huntington, erblicher Blind- oder Taubheit, "schwerer erblicher körperlicher Mißbildung" oder ferner "schwerem Alkoholismus" litten, durch einen operativen Eingriff "unfruchtbar gemacht", also sterilisiert werden. Unter bestimmten Bedingungen war der Eingriff auch gegen den Willen der betroffenen Person und unter "Anwendung unmittelbaren Zwanges" vorzunehmen. Die Anträge auf Sterilisation stellten in den meisten Fällen Amtsärzte oder die Leiter von Heil- und Pflege-, Kranken- oder Strafanstalten. Eigens dafür geschaffene "Erbgesundheitsgerichte" hatten in jedem Einzelfall über die Durchführung der Unfruchtbarmachung zu entscheiden. Besonders die nur vage definierte Diagnose "angeborener Schwachsinn" bot Antragstellern wie Gerichten die Möglichkeit einer rigorosen Auslegung des GzVeN. Insgesamt wurden auf dessen Grundlage im Deutschen Reich bis 1945 etwa 400.000 Menschen sterilisiert. In Münster waren mehr als 400 Männer, Frauen und auch Kinder betroffen.
Unter dem verschleiernden Begriff "Euthanasie" (aus dem Altgriechischen entlehnt 'guter Tod') begannen die Nationalsozialisten kurz nach Kriegsausbruch auf persönlichen Befehl Hitlers und ohne weitere Rechtsgrundlage mit der systematischen Vernichtung "lebensunwerten Lebens".
Von Oktober 1939 bis Kriegsende ließen sie in verschiedenen Geheimaktionen und -programmen in Deutschland und den besetzten Gebieten insgesamt mehr als 200.000 Menschen ermorden. Dabei handelte es sich vor allem um als "therapieresistent" eingestufte, arbeitsunfähige Langzeitpatientinnen und -patienten, die an den im GzVeN bestimmten "Erbkrankheiten" litten, sowie um Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Alleine im Rahmen der heute sogenannten "Aktion T4" wurden im Zeitraum von Januar 1940 bis August 1941 mehr als 70.000 Pflegebedürftige in speziellen Tötungsanstalten durch Gas getötet. In reichsweit etwa 30 "Kinderfachabteilungen" ließ das Regime zwischen 1939 und 1945 insgesamt 5.000 Kinder mit "schweren angeborenen Leiden" mittels überdosierter Medikamente ermorden.
Mehr als 150 Münsteranerinnen und Münsteraner lassen sich heute als Opfer der NS-"Euthanasie" identifizieren.
Nach 1945
Nach 1945 blieben Zwangssterilisierte und"Euthanasie"-Opfer sowie deren Hinterbliebene von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen. "Erbhygienische" Vorstellungen bestanden in Medizin, Politik und Gesellschaft fort. In Justiz und Gesundheitswesen behielten viele Funktions- und Entscheidungsträger der NS-Zeit ihre Ämter bei. Das GzVeN sowie die Urteile, die auf dessen Grundlage gesprochen wurden, wurden nicht als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt, die Opfer weiterhin stigmatisiert.
Ab den späten 1960er-Jahren setzte zwar ein langsames Umdenken ein. Es sollte aber noch bis 1988 dauern, bis der Deutsche Bundestag die zwischen 1933 und 1945 durchgeführten Zwangssterilisationen als NS-Unrecht ächtete. Zehn weitere Jahre später erklärte er die Aufhebung aller aufgrund des GzVeN ergangenen Urteile.
Eine Anerkennung von Zwangssterilisierten und "Euthanasie"-Opfern als "rassisch Verfolgte" im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes und eine damit verbundene entschädigungsrechtliche und vollständige Gleichstellung mit anderen Opfergruppen steht bis heute aus.
"Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apostelgeschichte 5, 29). Nicht zuletzt ihr bedingungsloses Festhalten an diesem Glaubenssatz ließ die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas – bis 1931 noch "Ernste Bibelforscher" genannt – zu einem Dorn im Auge des nationalsozialistischen Regimes werden. Denn dieser Losung folgend, entzogen sich ihre 1933 reichsweit etwa 25.000 Mitglieder jeglicher politischen Betätigung. Insbesondere den nationalsozialistischen Führerkult lehnten sie als "Götzendienst" ab. Sie weigerten sich, den "Hitlergruß" auszuführen, das Horst-Wessel-Lied zu singen (ein Kampflied der SA und ab 1933 praktisch die zweite Nationalhymne des Deutschen Reiches) sowie an nationalsozialistischen Festlichkeiten und Feiertagen teilzunehmen. NS-Organisationen wie etwa der Deutschen Arbeitsfront oder dem Reichsluftschutzbund blieben sie fern. Hinzu kam, dass Jehovas Zeugen es als ihre Aufgabe sahen, unablässig "das Königreich Gottes" zu verkünden und dabei nicht selten offene Kritik an staatlichen und kirchlichen Strukturen äußerten. Sie galten dem Regime daher als "politisch unzuverlässig" und als Gefahr für den "nationalen Staat".
Bereits wenige Monate nach der Machtübernahme verboten die Nationalsozialisten die Glaubensgemeinschaft auf Länderebene. Grundlage dafür bildete die "Reichstagsbrandverordnung", die im Februar 1933 infolge des Reichstagsbrandes "zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" erlassen worden war. In Preußen erging das Verbot im Juni 1933: "Die Internationale Bibelforscher-Vereinigung" betreibe "unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Bibelforschung eine unverkennbare Hetze gegen die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen" und leiste somit dem Kommunismus Vorschub, so die Begründung. 1935 folgte das Verbot auf Reichsebene.
Weil sie trotz des Verbots ihrer Organisation weiterhin öffentlich zu ihren religiösen Überzeugungen standen, wurden Zeugen Jehovas Opfer diskriminierender und repressiver Maßnahmen. Ihnen wurden die Arbeits- oder Dienstverhältnisse gekündigt, Gewerbescheine und Betriebserlaubnisse versagt. Mittel der öffentlichen Fürsorge, auf die sie nun häufig angewiesen waren, wurden ihnen gleichzeitig gekürzt oder gar verwehrt. Ab 1936 drohte ihnen zudem der Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder.
1936 und 1937 kam es zu reichsweiten Verhaftungswellen und Massenprozessen. Allein in Münster wurden 1937 18 Personen von einem Sondergericht wegen "verbotener Bibelforschertätigkeit" zum Teil zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Im gleichen Jahr erging die polizeiliche Anordnung, verurteilte Zeugen Jehovas nach Verbüßung ihrer Haftstrafe in Schutzhaft zu nehmen und in Konzentrationslager (KZ) zu überführen. Dort bildeten sie eine eigene Häftlingskategorie und wurden ab 1938 mit einem lilafarbenen Dreieck an der Kleidung, dem "lila Winkel", gekennzeichnet. Wie schon zuvor in den Gefängnissen wurden sie häufig isoliert, um eine Einflussnahme auf andere Gefangene zu verhindern. Ihr Alltag im Lager war geprägt von schwerer Arbeit, willkürlichen Misshandlungen, gezielter Mangelernährung, Krankheit und Tod.
Von den insgesamt etwa 2.000 Menschen, die während der NS-Herrschaft als Zeugen Jehovas in KZs verbracht wurden, fielen mehr als die Hälfte den Haftbedingungen zum Opfer oder wurden ermordet. Auch zwei der 1937 in Münster verurteilten Zeugen Jehovas wurden im Anschluss an ihre Haft in KZs verschleppt. Einer der beiden kam dort ums Leben.
Reichsweit wurden zudem etwa 250 Zeugen Jehovas im Verlauf des Krieges hingerichtet, weil sie ihrer religiösen Überzeugung folgend den Kriegsdienst verweigert hatten.
Nach 1945
Bereits kurz nach Ende des Krieges fanden Zeugen Jehovas Anerkennung als Opfer des NS-Regimes. Überlebende und Hinterbliebene wurden entschädigt. Gleichwohl setzte außerhalb der Glaubensgemeinschaft erst Ende der 1990er-Jahre eine wissenschafliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Verfolgung der Zeugen Jehovas ein.
Ende August 1939, wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen, trat im Deutschen Reich die "Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz", kurz "Kriegssonderstrafrechtsordnung" (KSSVO), in Kraft. Darin wurden "Sondertatbestände" sowie die jeweiligen Strafrahmen festgelegt, nach denen diese Delikte von den Militärgerichten im Kriegsfalle zu ahnden seien. Besonders schwere Strafen sollten dabei eine abschreckende Wirkung unter Soldaten und Wehrpflichtigen erzielen und für die "Aufrechterhaltung der Manneszucht" innerhalb der Truppe sorgen.
War die Verweigerung des Wehrdienstes zuvor noch als "Gehorsamsverweigerung" und meist mit Gefängnisstrafen geahndet worden, sollte nunmehr nur noch "in minder schweren Fällen" auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden. Das Gewissen oder eine religiöse Überzeugung wurden als Verweigerungsgründe nicht mehr anerkannt. So bestimmte die KSSVO, dass zum Tode zu verurteilen sei, wer sich "der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise" entziehe. In der Praxis stuften Richter lediglich als "minder schweren Fall" ein, wer seine Verweigerung widerrief und sich doch noch zum Wehrdienst bereit erklärte.
Noch härter als Wehrdienstverweigerer sollten Deserteure (auch "Fahnenflüchtige") bestraft werden. Für Fahnenflucht – eine vorsätzliche, dauerhafte Entfernung von der Truppe – sah die KSSVO grundsätzlich die Todesstrafe oder lebenslange Zuchthaushaft vor. Einem Zitat Hitlers aus dem Jahre 1925 folgend, urteilten die regimetreuen Militärrichter in der Regel nach der Losung "der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben".
Ungefähr 30.000 Wehrmachtsangehörige wurden während des Krieges zum Tode verurteilt. In rund 20.000 Fällen wurde die Hinrichtung vollzogen. Bei mehr als 300 der Exekutierten – darunter etwa 250 Zeugen Jehovas – handelte es sich um Wehrdienstverweigerer, bei 15.000 um Fahnenflüchtige. Tausende von Wehrdienstverweigerern und Fahnenflüchtigen, die nicht zum Tode verurteilt, oder deren Todesurteile nachträglich in Haftstrafen umgewandelt worden waren, starben in Konzentrations- und Strafgefangenenlagern an den Haftbedingungen oder wurden dort ermordet.
Gegen Ende des Krieges wurden verurteilte Deserteure immer öfter sogenannten "Bewährungsbataillonen" zugewiesen, wo sie in besonders gefährlichen Einsätzen mit minimaler Überlebenswahrscheinlichkeit die marginale Chance erhielten, eine Tilgung ihrer Strafe zu erwirken. Mindestens fünf aus Münster stammende Soldaten wurden zwischen 1939 und 1945 von Militärgerichten wegen Fahnenflucht verurteilt. Drei davon wurden standrechtlich erschossen, zwei kamen mit langjährigen Zuchthausstrafen davon, zu deren Verbüßung sie in Strafgefangenenlager überführt wurden.
Nach 1945
An eine Rehabilitierung der zur NS-Zeit von Militärgerichten als Wehrdienstverweigerer oder Deserteure verurteilten Personen war nach Kriegsende jahrzehntelang nicht zu denken. Nicht zuletzt deshalb, weil in der jungen Bundesrepublik viele Repräsentanten der ehemaligen Wehrmachtsjustiz Posten als Richter und Staatsanwälte bekamen und in ihren neuen Positionen vehement zur Entstehung des Mythos einer sauberen Wehrmacht und ihrer Justiz beitrugen. Auch in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft hielt sich hartnäckig das Bild, Wehrdienstverweigerung und Fahnenflucht seien Akte der Feigheit, Unkameradschaftlichkeit und des Verrats.
Erst 1998 wurden alle wehrmachtsgerichtlichen Urteile gegen Wehrdienstverweigerer pauschal aufgehoben, 2002 schließlich auch jene gegen Deserteure.