Aus der "Vergessenheit" holen
Forschungs- und Gedenkprojekt der Stadt Münster macht Schicksale von bislang unbeachteten Verfolgten des Nationalsozialismus und deren anhaltende Ausgrenzung in der Bundesrepublik sichtbar
Bis heute ist nur wenig bekannt über die Schicksale von Münsteranerinnen und Münsteranern, die in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 wegen ihrer sexuellen Orientierung oder aus sozialrassistischen Gründen verfolgt wurden. Homosexuelle Männer und Frauen, Sinti* und Roma*, Angehörige sozialer Randgruppen und aus Sicht des nationalsozialistischen Regimes unangepasst lebende Menschen wurden von den Nationalsozialisten zu vielen Tausenden ausgegrenzt, zwangssterilisiert, in Konzentrationslager gesperrt und ermordet.
Viele der Betroffenen litten weit über 1945 hinaus unter Diskriminierungen. Ihre Verfolgungserfahrungen erfuhren keine Würdigung. Von Entschädigungsleistungen blieben sie vielfach ausgeschlossen. Homosexuelle Männer bestrafte die Bundesrepublik weiterhin auf Grundlage eines NS-Gesetzes, ehe mit dessen Reform 1969 eine allmähliche Entkriminalisierung einsetzte.
In jahrzehntelangen Auseinandersetzungen und gegen viele Widerstände haben jüdische, politische oder kirchliche Verfolgte des NS-Regimes ihren Platz in der bundesdeutschen Erinnerungskultur gefunden. Gerade die Verfolgten aber, die nach 1945 weiterhin gesellschaftlich ausgegrenzt wurden, blieben im offiziellen Gedächtnis weitgehend unberücksichtigt. Sie gerieten – teils unbeabsichtigt, teils bewusst – in Vergessenheit.
2021 beschloss der Rat der Stadt Münster einstimmig, die Schicksale der bislang "vergessenen" münsterischen Verfolgten, die an ihnen verübten NS-Verbrechen sowie ihre Verdrängung in der Bundesrepublik aufzuarbeiten und im Bewusstsein der Stadtgesellschaft zu verankern. Dem Ratsbeschluss waren Initiativen der Ratsgruppe Piraten/ÖDP (2018) und des Vereins Spuren finden (2020) vorausgegangen.
Von Oktober 2021 bis Dezember 2023 recherchierte Timo Nahler als Projektmitarbeiter des Stadtarchivs bundesweit zu den "vergessenen Verfolgten" der Stadt Münster. In Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen des Geschichtsortes Villa ten Hompel und dem Amt für Gleichstellung wurden parallel Vermittlungs- und Gedenkformate entwickelt. Unter anderem anhand von Akten der Justiz sowie der Behörden und Einrichtungen von Stadt- und Provinzialverwaltung konnten bis Ende 2023 die Namen von mehr als 300 bislang unbekannten NS-Verfolgten aus Münster dokumentiert werden. In einzelnen Fällen machten Aufzeichnungen und Schilderungen der Betroffenen oder Hinterbliebenen die Diskriminierungen und Verfolgungserfahrungen auf individueller Ebene nachvollziehbar.
Die auf dieser Website dargestellten elf Biografien stehen stellvertretend für die "vergessenen Verfolgten" der Stadt Münster. In ihnen werden persönliche Lebenswelten, soziale und wirtschaftliche Zwänge, Mechanismen der Ausgrenzung und Verfolgung sowie die Versuche der Betroffenen sichtbar, sich dem Zugriff des Regimes zu entziehen und zu überleben.
Anmerkung: Das * verweist auf die kulturelle, soziale und geschlechtliche Vielfalt verschiedener Gruppen und Individuen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden.
Nur in sehr wenigen Fällen konnten Fotografien der Verfolgten ermittelt werden. Die hier gezeigten Illustrationen stammen von der Künstlerin Astrid Nippoldt:
„Von vielen NS-Verfolgten, gerade wenn sie aus einfachsten Verhältnissen kommen, existieren wenige oder gar keine privaten Fotos. Nicht selten stammt die einzige erhaltene Bildaufnahme aus der Täterperspektive. Den Sinn meiner Arbeit sehe ich darin, eine würdevolle Erinnerung zu schaffen und die Opfer als das zu zeigen, was sie waren – ganz normale Menschen. "