Forschungs- und Gedenkprojekt

Illustration: Mit dem Zug wird Maria Sibonus im März 1943 nach Auschwitz deportiert.
 

Aus der "Vergessenheit" holen

Forschungs- und Gedenkprojekt der Stadt Münster macht Schicksale von bislang unbeachteten Verfolgten des Nationalsozialismus und deren anhaltende Ausgrenzung in der Bundesrepublik sichtbar

Bis heute ist nur wenig bekannt über die Schicksale von Münsteranerinnen und Münsteranern, die in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 wegen ihrer sexuellen Orientierung oder aus sozialrassistischen Gründen verfolgt wurden. Homosexuelle Männer und Frauen, Sinti* und Roma*, Angehörige sozialer Randgruppen und aus Sicht des nationalsozialistischen Regimes unangepasst lebende Menschen wurden von den Nationalsozialisten zu vielen Tausenden ausgegrenzt, zwangssterilisiert, in Konzentrationslager gesperrt und ermordet.

Viele der Betroffenen litten weit über 1945 hinaus unter Diskriminierungen. Ihre Verfolgungserfahrungen erfuhren keine Würdigung. Von Entschädigungsleistungen blieben sie vielfach ausgeschlossen. Homosexuelle Männer bestrafte die Bundesrepublik weiterhin auf Grundlage eines NS-Gesetzes, ehe mit dessen Reform 1969 eine allmähliche Entkriminalisierung einsetzte.

In jahrzehntelangen Auseinandersetzungen und gegen viele Widerstände haben jüdische, politische oder kirchliche Verfolgte des NS-Regimes ihren Platz in der bundesdeutschen Erinnerungskultur gefunden. Gerade die Verfolgten aber, die nach 1945 weiterhin gesellschaftlich ausgegrenzt wurden, blieben im offiziellen Gedächtnis weitgehend unberücksichtigt. Sie gerieten – teils unbeabsichtigt, teils bewusst – in Vergessenheit.

2021 beschloss der Rat der Stadt Münster einstimmig, die Schicksale der bislang "vergessenen" münsterischen Verfolgten, die an ihnen verübten NS-Verbrechen sowie ihre Verdrängung in der Bundesrepublik aufzuarbeiten und im Bewusstsein der Stadtgesellschaft zu verankern. Dem Ratsbeschluss waren Initiativen der Ratsgruppe Piraten/ÖDP (2018) und des Vereins Spuren finden (2020) vorausgegangen.

Von Oktober 2021 bis Dezember 2023 recherchierte Timo Nahler als Projektmitarbeiter des Stadtarchivs bundesweit zu den "vergessenen Verfolgten" der Stadt Münster. In Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen des Geschichtsortes Villa ten Hompel und dem Amt für Gleichstellung wurden parallel Vermittlungs- und Gedenkformate entwickelt. Unter anderem anhand von Akten der Justiz sowie der Behörden und Einrichtungen von Stadt- und Provinzialverwaltung konnten bis Ende 2023 die Namen von mehr als 300 bislang unbekannten NS-Verfolgten aus Münster dokumentiert werden. In einzelnen Fällen machten Aufzeichnungen und Schilderungen der Betroffenen oder Hinterbliebenen die Diskriminierungen und Verfolgungserfahrungen auf individueller Ebene nachvollziehbar.

Die auf dieser Website dargestellten elf Biografien stehen stellvertretend für die "vergessenen Verfolgten" der Stadt Münster. In ihnen werden persönliche Lebenswelten, soziale und wirtschaftliche Zwänge, Mechanismen der Ausgrenzung und Verfolgung sowie die Versuche der Betroffenen sichtbar, sich dem Zugriff des Regimes zu entziehen und zu überleben.

Anmerkung: Das * verweist auf die kulturelle, soziale und geschlechtliche Vielfalt verschiedener Gruppen und Individuen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden.

Nur in sehr wenigen  Fällen konnten Fotografien der Verfolgten ermittelt werden. Die hier gezeigten Illustrationen stammen von der Künstlerin Astrid Nippoldt:
„Von vielen NS-Verfolgten, gerade wenn sie aus einfachsten Verhältnissen kommen, existieren wenige oder gar keine privaten Fotos. Nicht selten stammt die einzige erhaltene Bildaufnahme aus der Täterperspektive. Den Sinn meiner Arbeit sehe ich darin, eine würdevolle Erinnerung zu schaffen und die Opfer als das zu zeigen, was sie waren – ganz normale Menschen. "

Hintergründe zum Projekt "Vergessene Verfolgte"

Grundlage des Projekts „Gedenken an die verfolgten Homosexuellen und vergessenen Opfergruppen der NS-Zeit sowie der Nachkriegsjahrzehnte“ ist ein Beschluss des Rats der Stadt Münster aus dem Jahr 2021 mit dem Ziel, der verfolgten Homosexuellen und vergessenen Opfergruppen der NS-Zeit zu gedenken sowie den Internationalen Tag gegen Homophobie (IDAHOT) in der Stadtgesellschaft sichtbarer machen. Zentrales Format des Gedenkens ist diese Webseite. Im Ergebnis ließen sich elf Lebensläufe von „vergessenen Verfolgten“ rekonstruieren.

Ein wissenschaftlicher Forschungsbericht dokumentiert detailliert die Recherchewege und Ergebnisse des Projekts (erscheint 2024).

Ratsbeschluss

Abschlussbericht

Pädagogische Formate zum Projekt

Ein Thementag im münsterischen Geschichtsort Villa ten Hompel bereitet die Lebenswege von "vergessenen Verfolgten" für Schul- und Jugendgruppen pädagogisch auf.
Eine Handreichung für Lehrkräfte bietet einen Überblick über die Schicksale der "vergessenen Verfolgten" in Münster vor und nach 1945. Einordnende Hintergrundtexte, aufgearbeitete Quellen und Arbeitsaufträge ermöglichen die praktische Nutzung im Schulunterricht oder in der historisch-politischen Bildung. Die Handreichung erscheint Anfang 2024 und ist über das Stadtarchiv Münster zu beziehen.

Thementag

Queer Münster. Eine andere Geschichte der Stadt

Angelehnt an das Forschungsprojekt haben Studierende der Universität Münster zusammen mit Dr. Julia Paulus und Dr. Claudia Kemper  eine Ausstellung zur queeren Geschichte Münsters seit den 1970er Jahren entwickelt. Die Ausstellung und Lernmaterial stehen online zum download bereit. Die Ausstellung kann außerdem von Schulen und anderen Bildungsträgern ausgeliehen werden.

Zur Ausstellung

Diverses Münster

Um die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten sichtbar zu machen und die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter* und queeren Menschen (LSBTIQ*) zu erhöhen, hisst die Stadt Münster jährlich am 17. Mai Regenbogenflaggen am Rathaus. Das ist der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter*- und Trans*feindlichkeit (IDAHOBIT). Ein städtischer Aktionsplan soll Diskriminierungen wegen sexueller oder geschlechtlicher Identitäten bekämpfen. Das Amt für Gleichstellung pflegt hierfür ein Netzwerk.

Aktionsplan gegen Diskriminierung

Netzwerk sexuelle und geschlechtliche Vielfalt

   

Gedenken an NS-Verfolgte in Münster

Der Verein Spuren finden dokumentiert die Biographien der NS-Verfolgten aus Münster in einem Gedenkbuch. Seit dem Jahr 2000 koordiniert der Verein zentral die Verlegung der Stolpersteine an den letzten Wohnorten der Verfolgten in Münster. Ein Online-Stadtplan bietet eine Übersicht über alle Stolpersteine in Münster.

Münster gedenkt: Jährlich erarbeiten Schülerinnen und Schüler in Münster Projekte in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, die am offiziellen Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, präsentiert werden. Der Oberbürgermeister der Stadt Münster, Markus Lewe, ist Schirmherr der Aktion, die mit einer zentralen Gedenkveranstaltung auf dem Platz des Westfälischen Friedens schließt. Beteiligt sind neben der Stadt und vielen Schulen aus Münster und dem Umland die Bezirksregierung Münster und gesellschaftliche Initiativen.

Stadtplan Stolpersteine

Geschichtsort Villa ten Hompel

Die Villa ten Hompel ist die Gedenkstätte der Stadt Münster für alle Verfolgten des Nationalsozialismus. Der Geschichtsort erforscht und dokumentiert Verbrechen der Polizei im Nationalsozialismus sowie die schwierige Auseinandersetzung mit Täterschaft und Entschädigungen in der Nachkriegszeit. Mit Gedenkveranstaltungen, Lesungen, Vorträgen, Veröffentlichungen und einem breiten pädagogischen Angebot richtet sich der Geschichtsort mit seiner erinnerungskulturellen Arbeit an die gesamte Stadtgesellschaft.

Villa ten Hompel