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„Erzähl mal...“ Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Keine Erlösung
Karolin Baumann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Villa ten Hompel und dort u.a. für die Sammlung zuständig. Sie ist 1993 geboren und hat die Geschichte ihres Großvaters väterlicherseits untersucht, der sieben Jahre vor ihrer Geburt verstorben ist.
Über Uwe wusste ich schon früh, dass er in der Wehrmacht war – bei diesem fragmentarischen Wissen blieb es lange. Uwe, das war mein Großvater, aber da ich ihn nicht mehr kennenlernte, nenne ich ihn lieber Uwe. Den Nationalsozialismus erlebten meine Großeltern väterlicherseits als erwachsene Menschen: Uwe ist 1909 geboren, meine Großmutter Marianne 1912; sie heirateten 1937 in Varel bei Oldenburg. Im selben Jahr trat Uwe der NSDAP bei.
Viele Unterlagen sind bei Umzügen und Haushaltsauflösungen in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Erst vor zwei Jahren hatte mein Vater beim Besuch eines Cousins eine Tasche mit etwa 80 Feldpostbriefen von Uwe, Lebensdokumenten, einem Fotoalbum und einem Kriegstagebuch meines Urgroßvaters aus dem Ersten Weltkrieg erhalten. Zeile für Zeile versuchte ich daraufhin die Puzzlestücke aus dem Leben eines Mannes zusammenzusetzen, der zwar mein Großvater, für mich aber auch ein absolut Fremder gewesen ist. Dennoch blieben einige Fehlstellen: Der lückenhafte und einseitige Briefwechsel ließ viel Spekulationsraum, Unterlagen aus dem Bundesarchiv konnten nur hier und da ergänzen, mein Vater erinnerte sich an vieles, wusste aber auch nicht alles. Während der Recherche, die zwischenzeitlich für mich eine regelrechte Sogwirkung entwickelte, stellte ich mir immer wieder die Fragen: Wo komme ich am Ende an, wenn ich alle Daten rekonstruiert und alle Wege nachgezeichnet habe? Kann die Gewissheit über sein Handeln für ein erleichterndes Gefühl sorgen, oder besteht das Nebulöse angesichts der vielen offenen Fragen zu Beweggründen und Überzeugungen fort?
Folgendes konnte ich, hier stark zusammengefasst, rekonstruieren: Als Uwe fünf Jahre alt war, am 6. August 1914, meldete sich sein Vater, mein Urgroßvater, voller Überzeugung freiwillig zum Militärdienst – dies dokumentiert das erhaltene Kriegstagebuch. Die Tagebucheinträge wechseln von anfänglicher Euphorie und Entschlossenheit schon nach wenigen Wochen zu Zweifeln und Resignation. Am 15. Juli 1915 fiel mein Urgroßvater in den Argonnen und wurde dort auf einem Soldatenfriedhof begraben. Meine Urgroßmutter Theda sorgte deshalb alleine für Uwe und seine drei Geschwister. In jungen Jahren hatte Uwe zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert, bis 1937 seine militärische Karriere begann. Nach einer Ausbildung als Fernaufklärer der Luftwaffe in Hildesheim war er von 1940 bis 1944 Flugzeugführer in einer Aufklärungsgruppe. Nach der Beförderung zum Leutnant flog er in diesen Jahren immer wieder auch Kampfeinsätze, sodass er unter anderem aktiv an Bombardierungen ziviler Wohngegenden beteiligt war. Von solchen Einsätzen in ganz Europa berichtet er in mehreren Briefen, beispielsweise am 14. Mai 1941 über die Luftangriffe auf London:
„Beim letzten Großangriff auf London war ich mit meiner Besatzung auch dabei. In einer Nacht sind wir 2 Mal über London geflogen, zuerst mit einer 500 kg Bombe und 700 Brandbomben und dann noch mit vier anderen größeren Bomben. Es war eine fabelhafte Sicht, sodaß wir die Themse, Straßen und Gebäude sehr gut erkennen konnten. Die Abwehr?! War nicht sehr stark, beim 2. Anflug brannten ganze Stadtteile nördlich der Themse, schon 100 km weit sah man den riesigen Brand, Rauchwolken bis 3000 m Höhe und dazwischen Feuersäulen und immer neue Explosionen von abgeworfenen Bomben. Auch im Süden der Stadt waren riesige Brände zu erkennen.“
Ab Frühsommer 1942 bis September 1943 gibt es eine Lücke im Briefbestand. In genau diese Zeit fällt ein Auszug aus der Sammlung NSDAP-Parteikorrespondenz des Bundesarchivs: Ein Formular zur Berechnung des Besoldungsdienstalters für eine Stelle in der Gauleitung Weser-Ems vom 15. Dezember 1942 bezeugt eine zwischenzeitliche Beschäftigung in der Finanzverwaltung der NSDAP. Als Gaustellenleiter war er für die Finanzverwaltung von Gauführerschulen zuständig, wofür er sich vermutlich durch seinen vorherigen Beruf als Bankkaufmann qualifizierte. Darüber, ob er diese Tätigkeit zur finanziellen Absicherung oder aus tiefer ideologischer Überzeugung ausübte, kann ich heute nur mutmaßen – so oder so unterstützte er damit den nationalsozialistischen Verwaltungsapparat.
Nach Kriegsende kehrte Uwe nach Oldenburg zurück und arbeitete nach kurzer Erwerbslosigkeit wieder in einer Bank. Nachdem er von einem Entnazifizierungsausschuss in die Kategorie V (Unbelastete) eingestuft worden war, trat er im Alter von 49 Jahren der 1955 gegründeten Bundeswehr bei und war als Hauptmann in Oldenburg tätig. Aufgrund seines Alters und seiner militärischen Erfahrung war Uwe als Standortältester für lokale Verwaltungs- und Koordinationsaufgaben zuständig – eine Position, die ihn mit Stolz erfüllte. Nach der Pensionierung war er noch einige Jahre als Geschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Oldenburg tätig. In diesem Rahmen besuchte er auch das Kriegsgrab seines Vaters in Frankreich, was mit bedeutungsträchtigem Kniefall dokumentiert wurde.
Mein Vater erinnert sich, dass Uwe auf Fragen zum Krieg und zum Nationalsozialismus sehr zugeknöpft reagierte. Durch Sätze wie „An diese Zeit möchte ich mich nicht erinnern“ oder „Was wir da erlebt haben, möchte ich nicht preisgeben“ erstickte er derartige Gespräche im Keim und verfestigte damit die „doppelte Wand“ zwischen den Generationen, wie der israelische Psychologe Dan Bar-On das Schweigen der Eltern und das Nicht-Fragen der Kinder und Kindeskinder benannte. Unter Aussparung der Kriegsjahre wurde stattdessen die Erzählung hochgehalten, dass das Militär einen respektablen Mann aus Uwe gemacht hätte, und meinem Vater nahegelegt, er solle doch auch Berufssoldat werden. Diesem Wunsch ist er nicht nachgekommen.
Während der Brieflektüre habe ich anfangs eine große Diskrepanz gespürt: Wie kann jemand sich in einem Satz nach dem Wohlbefinden der Familie erkundigen und im nächsten Satz die militärische Leistung bei der Bombardierung ziviler Wohngegenden feiern? Mit Blick auf Biografien von NS-Tätern, die wir in unserer historischen Arbeit in der Villa ten Hompel betrachten, ist genau diese Koexistenz jedoch nichts Ungewöhnliches. Die Rolle des fürsorglichen Familienvaters passt mit der des Flugzeugführers, der Bomben über Europa abwirft, durchaus zusammen. Wenn man, wie Uwes NSDAP-Mitgliedschaft nahelegt, von der Ideologie der Volksgemeinschaft überzeugt ist, dann passt das schon. Mein Großvater war Nazi – ein Rädchen im Getriebe der Wehrmacht und der NSDAP-Verwaltung –, dann wurde er entnazifiziert und setzte seine Karriere bei der Bundeswehr fort. Leider ein durchschnittlicher, austauschbarer Lebenslauf, von dem die Situierung meiner Familie und damit auch ich profitiert haben. Es macht mich nicht zu einem besseren Menschen, dass ich die Eckpunkte seiner Biografie wieder etwas näher ans Tageslicht gebracht habe, und es macht mich nicht zum Opfer, nicht zur Traumatisierten, dass lange in meiner Familie über diese Themen geschwiegen wurde. Ich bin Nazi-Nachfahrin und das kann so stehenbleiben, es gibt keine Erlösung, aber eine Verantwortung, die ich jetzt noch deutlicher spüre. Auch wenn ich nun erstmal eine Pause von meinem Großvater brauche.