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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
(Nicht) Wissen wollen
Kim Sommerer ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin in der Villa ten Hompel. Sie ist 1996 geboren und erforscht die Geschichte ihres Urgroßvaters mütterlicherseits.
Eine ganze Reihe von Fotos steht im Regal meiner Großmutter. Man sollte meinen, meine Schwester und ich würden die Fotos auswendig kennen; schließlich waren wir als Kinder fast jeden Tag zum Mittagessen bei ihr. Doch ein Bild stach mir erst vor wenigen Jahren ins Auge: Ein Familienfoto meiner Großmutter mit ihren Geschwistern und Eltern. Es muss etwa um die Jahreswende 1940/41 aufgenommen worden sein, denn meine Großmutter wurde im Sommer 1940 geboren und sitzt als jüngste Tochter auf dem Schoß ihrer Mutter, ganz links auf dem Foto. Auf der rechten Seite des Bildes sitzt ihr Vater, Otto. Gekannt hat meine Großmutter ihn kaum, denn er starb wahrscheinlich im März 1945 im Kriegseinsatz. Auffällig ist allerdings die SS-Uniform, die Otto auf dem Familienfoto trägt.
Als meine Uroma Grete noch lebte, war ich noch zu jung, um sie nach Otto zu fragen. Doch selbst meine Großmutter weiß nicht viel über ihren Vater: Mit dem Ende des Krieges hatte Uroma Grete all seine Sachen verbrannt und nie wieder über ihn gesprochen. Einige Erinnerungen meiner Großmutter, Vermutungen und Erzählungen ihrer Geschwister werfen allerdings Fragen nach der NS-Vergangenheit meines Urgroßvaters auf: Dass er nicht nur im Krieg gewesen war, sondern einen Totenkopf auf der Uniform getragen hätte oder bei einer Einheit gewesen wäre, die "Leibstandarte Adolf Hitler" hieß; dass er insgeheim aber nicht von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugt gewesen wäre und immer gesagt hätte, "die letzte Kugel sei für ihn"; dass er nichts Böses gemacht haben könnte, denn meiner Oma und ihren Geschwistern sei er doch ein liebevoller Vater gewesen.
Doch wenn er "das alles nicht gewollt" oder nichts Schlimmes gemacht hatte, wieso sollte Uroma Grete dann alle Erinnerungen an ihn vernichten? Ein Grund, Recherchen zu starten. Auch meine Großmutter wollte mehr über ihren Vater wissen - "die ganze Wahrheit", an welchen (Kriegs-)Orten er gewesen und an welchen Taten er beteiligt war.
Gleich mehrere beim Bundesarchiv angeforderte Akten verraten mehr über meinen Urgroßvater: Eintritt in die NSDAP im Dezember 1931, wenig später auch in die SS. Ausgezeichnet mit dem Ehrenwinkel der "Alten Kämpfer", Teilnahme an den Reichsparteitagen 1936/37.
Auch ein Lebenslauf ist in seiner SS-Mitgliedsakte zu finden, den er für sein Heiratsgesuch an das Rasse- und Siedlungshauptamt verfasste. Im Grunde liest sich dieser wie die Geschichte eines Scheiterns: Nach der Ausbildung als Schlosser wurde er aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage immer wieder aus Beschäftigungsverhältnissen entlassen und konnte schließlich keine neue Anstellung mehr finden. Eine Ausbildung an der SS-Führerschule in Fröndenberg ermöglichte ihm dann eine Anstellung als Hilfsarbeiter in einem Messingwerk und damit den Weg aus der Arbeitslosigkeit und möglicherweise zu mehr Ansehen. Ob das seine Hauptmotivation dafür war, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen, lässt sich leider nicht mehr herausfinden.
Ebenso wenig wie der Grund dafür, dass er sich im Mai 1940 freiwillig zum Dienst in der Waffen-SS meldete. Neben SS-Nachrichten-Ersatz-Abteilungen, in denen er sich als Fernsprecher ausbilden ließ, war er Teil verschiedener, berüchtigter Einheiten: Zwischen Juni 1940 und Februar 1942 war er Teil der Feldtruppe des Kommandostabs Reichsführer SS (RFSS), anschließend in der Leibstandarte Adolf Hitler (LSSAH), wie meine Großmutter gesagt hatte.
In welcher Abteilung genau er innerhalb des Kommandostabes Reichsführer SS war und welche Aufgabe er innehatte, ließ sich nicht rekonstruieren. Möglich, dass er weiter als Fernsprecher verwendet wurde, oder, wie später empfohlen, als Kraftfahrer oder Gewehrschütze. Doch mit Blick auf die überlieferten Kriegstagebücher der Einheit stellt sich die Frage, ob es überhaupt nötig ist, seine genaue Beteiligung zu kennen. Ob es nicht reicht, zu wissen, dass Angehörige des Kommandostabes RFSS täglich den "Erfolg" meldeten, hunderte Jüdinnen*Juden oder "Partisanen" umgebracht zu haben. Oder versuchten, Frauen und Kinder in Sümpfen zu ermorden und bedauerten, dass ein Einsickern durch zu viele sandige Flächen erschwert wurde. Es sind grausame Verbrechen, die Angehörige des Kommandostabes RFSS in dem Zeitraum im Osten Europas begingen, in dem auch mein Urgroßvater ihm angehörte. In welcher Art er selbst an diesen Verbrechen beteiligt war, ob durch eigenes Handeln oder Mitwissen, spielt wohl eine untergeordnete Rolle: Mitverantwortlich für diese Verbrechen war er in jedem Fall.
Ab Juni 1942 war Otto Teil der Leibstandarte Adolf Hitler und wurde etwa zeitgleich zum Rottenführer befördert. Die Liste der Länder, in denen die LSSAH im Einsatz war, ist lang: Ukraine, Frankreich, Russland, Italien, Belgien, Ungarn, … . Boves und Malmedy sind dabei nur zwei der Orte, an denen Angehörige der LSSAH Kriegsverbrechen begingen. Zugegebenermaßen erleichtert es mich ein wenig, dass es wohl Angehörige des 2. Regiments waren, die diese Verbrechen zu verantworten haben, Otto aber dem 1. Regiment angehörte. Andererseits war auch das 1. SS-Panzergrenadier-Regiment z. B. an der "Niederschlagung" von Aufständen in Istrien beteiligt – was immer damit verbunden war.
Immer noch fehlen also Details über Ottos Handeln, die wahrscheinlich nie beantwortet werden können. Zu gerne würde ich die Gründe für seine Entscheidungen kennen. Ob seine Arbeitslosigkeit tatsächlich den entscheidenden Anstoß gab, die nationalsozialistische Politik zu unterstützen, ob er von der NS-Rassenideologie überzeugt war, inwiefern er sich für die Waffen-SS meldete, um dem Fronteinsatz in der Wehrmacht zu entgehen, oder für Ansehen, um "Dazuzugehören", oder oder oder … Wahrscheinlich war er einer der "ganz normalen Männer", die wir in unseren Seminaren immer so hervorheben, der sich aus diversen Motiven und Begebenheiten an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligte.
Welche Gründe es auch gewesen sein mögen: Es wäre gelogen, zu sagen, es würde mich nicht schockieren. Die Tatsache, dass mein Urgroßvater in irgendeiner Weise für diese Verbrechen (mit)verantwortlich war und ein diskriminierendes, menschenverachtendes System unterstützt hatte - und dass meine Urgroßmutter dies allen Anzeichen nach wusste, stimmt mich mehr als nachdenklich, auch wenn es in vielen Familien der Fall war. Es fällt schwer, sich mit diesem Halbwissen zufrieden zu geben und andererseits mit dem, was ich weiß, umzugehen.
Und wenn mir der Umgang schon schwerfällt: Welche Informationen kann ich dann meiner Großmutter weitergeben? Wenn es sich nicht "einfach" um einen Verwandten handelt, von dem man nur einen Namen und ein Foto kennt, sondern um den eigenen Vater? Bei all dem in Seminaren oft nüchternen Berichten von Verbrechen und Tätern, hätte ich nicht erwartet, dass es mir nun doch so schwerfallen würde, meiner Oma diese Erkenntnisse zu vermitteln. Und würde mir fast wünschen, dass sie es doch nicht wissen wollte und Otto einfach nur der kaum gekannte Familienvater auf dem schwarzweißen Foto in ihrem Regal geblieben wäre.