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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Das Familienerbstück aus den Emslandlagern?
Kathrin Schulte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Villa ten Hompel. Sie ist 1990 geboren und erforscht die Geschichte ihres Urgroßvaters mütterlicherseits.
Eigentlich war mein Text schon im letzten Jahr fertig. Ich hätte über meine Großväter geschrieben: Der eine war seit 1939 in der Wehrmacht, erst an der West-, dann an der Ostfront; der andere ging 1944 mit 17 zur Luftwaffe, wurde direkt in Belgien aufgegriffen und war einige Jahre in britischer Kriegsgefangenschaft. Bei beiden lassen sich zwar die Wege nachvollziehen, weitere Informationen jedoch kaum finden.
Dann tauchte aber bei der Haushaltsauflösung meiner Großmutter ein Gegenstand auf. Von diesem hatte meine Mutter bereits berichtet, als ich von unserer Arbeitsgruppe erzählte und nach den Lebensdaten für die Archivrecherche fragte. Durch diesen Gegenstand, ein kleines Holzkästchen mit aufwändiger Intarsienarbeit, rückte der Vater meiner Großmutter, Johann, in den Fokus.
Bei der Recherche nach meinem Urgroßvater und der Sichtung von Fotos und weiteren Dokumenten im Familienbesitz ergibt sich folgendes Bild: Er hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft. Für einen Einsatz im Zweiten Weltkrieg war er, bei Kriegsbeginn Anfang 40, etwas zu alt, zumindest um regulär zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Stattdessen arbeitete er als Postbote, später wohl als Paketfahrer. Es gibt einige Fotos von ihm: Er posiert in einer dunklen Uniform vor einem Auto der Deutschen Reichspost, fährt auf seinem Dienstmotorrad und steht, flankiert mit fünf Männern in Waffenröcken (die sich anhand des Fotos nicht zweifelsfrei zuordnen lassen) im Schnee. All dies wäre eigentlich kein Grund für eine weitere Recherche – käme der Teil meiner Familie nicht aus dem nördlichen Emsland.
Dort gab es seit 1933 die Emslandlager. Die Nationalsozialisten richteten seit 1933 insgesamt 15 Lager ein, davon zwölf auf dem Gebiet des heutigen Emslandes, drei im heutigen Landkreis Grafschaft Bentheim. Die Zusammensetzung der Inhaftierten variiert je nach Lager, unter ihnen waren Menschen, die aus rassistischen, politischen, religiösen oder sozialen Gründen verfolgt wurden, wegen kriminellen Delikten verurteilte Personen, Kriegsgefangene, ausländische Widerstandskämpfer und Verurteilte der Wehrmachtsgerichte. Die Inhaftierten hatten unter anderem Zwangsarbeit im Moor zu leisten. Aus diesem Kontext stammt auch das Lied "Die Moorsoldaten". Mit Kriegsbeginn wurden sie zudem als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft sowie in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Drei dieser Lager, die Lager Börgermoor, Aschendorfermoor und Brual-Rhede, waren in direkter räumlicher Nähe zum Wohnort meiner Urgroßeltern.
Bis hierhin lassen sich die Informationen belegen. Mit der Betrachtung des aufwändig gearbeiteten Holzkästchens beginnen die Spekulationen. Die damit verbundene Geschichte lautet folgendermaßen: Johann belieferte als Post- bzw. Paketfahrer nicht nur Privatpersonen, auch das Lager Esterwegen lag auf seiner Route. Das Holzkästchen sei von Häftlingen der Lager gefertigt und ihm als Dankeschön geschenkt worden, so das familiäre Narrativ.
Ich hatte natürlich einige Fragen: Wieso haben Häftlinge Johann diese Schatulle geschenkt? Als Dankeschön für Post oder Pakete? Das Kästchen wurde sehr aufwändig und aus verschiedenen Holzarten gearbeitet. Wie konnte so etwas in einem der Lager gefertigt werden – gab es Werkstätten? Wo kam das Holz her? Wer hat es gefertigt? Da sich diese Fragen anhand von Literaturrecherche nicht beantworten ließen, wandte ich mich an die Gedenkstätte Esterwegen. So konnten sich glücklicherweise einige Fragen klären: In den Lagern wurden tatsächlich verschiedene Objekte, wie Gemälde oder Arbeiten ähnlich des Holzkästchens, gefertigt. Zudem gab es dort Werkstätten zur Instandhaltung des Lagers, die allerdings auch für entsprechende künstlerische Arbeiten genutzt wurden. Die Inhaftierten fertigten die Arbeiten entweder in ihrer Freizeit oder als Auftragsarbeiten für die Wachmannschaften.
Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass diese aufwändige Intarsienarbeit von einem Gefangenen in einem der Lager angefertigt wurde. Um wen es sich dabei handelte, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen, da keine Initialen, kein Datum oder eine andere Möglichkeit der Zuordnung zu finden sind. Eine direkte Übergabe durch einen Insassen der Lager an Johann, vielleicht als Dankbarkeit für die Lieferung eines Päckchens, ist eher unwahrscheinlich – die Post wurde durch die Wachmannschaften kontrolliert und dass diese Kontrolle durch den Postboten ungesehen umgangen wurde, ist fraglich.
Die für mich plausibelste Version des Ganzen ist diejenige, dass Johann die auf seiner Route liegenden Lager mit Post belieferte und so in Kontakt mit den Wachmannschaften kam. Bei dem Holzkästchen könnte es sich um eine Auftragsarbeit handeln, die jemand aus dem Lagerpersonal ihm geschenkt hat, vielleicht zu Weihnachten, vielleicht als Geschenk für meine Urgroßmutter? Der genaue Hergang wird sich nicht klären lassen. Die Schatulle wurde später zur Aufbewahrung von Nähzeug genutzt und eines der Scharniere irgendwann repariert.
Und Johann? Informationen zu seiner politischen Überzeugung fehlen. Zur Mitgliedschaft in der NSDAP oder anderen Parteiorganisationen liegen im Bundesarchiv keine Dokumente vor. Von den Emslandlagern und den dortigen Zuständen wusste er allein aus beruflichen Gründen, seine Einstellung zu den Lagern und den Gefangenen kenne ich nicht. Mit Blick auf die Statistik ist Widerstand höchst unwahrscheinlich. Hat er die Lager und die Zwangsarbeit abgelehnt? Hat er es befürwortet, dass das Moor durch die Zwangsarbeiter trockengelegt und somit nutzbar gemacht wurde? Dachte er, die Menschen säßen zurecht im Lager? Ich weiß es nicht – leider kommt die Recherche hier an ihre Grenzen, da Dokumente, die Auskunft über seine Ansichten geben könnten, fehlen.
Und der Umgang in der Familie mit der eigenen NS-Geschichte? In der ersten Version meines Textes habe ich von dem Schweigen und der seltsamen Stimmung geschrieben, das bzw. die herrschte, als meine Großeltern auf das Thema angesprochen wurden. Meine Erfahrung ist eine andere: Als ich gefragt habe, bekam ich Antworten. Die Fragen richteten sich allerdings vor allem an meine Elterngeneration, die mit dem Thema anders umgeht, als die direkt betroffenen Personen. Mit jedem Gespräch gibt es neue Informationen und Anekdoten. Und dass das Thema der NS-Familiengeschichte in meinem Falle noch nicht ausrecherchiert ist, zeigt eine Mappe voller Briefe und Fotos meines damals gerade volljährigen Opas aus der britischen Kriegsgefangenschaft, die nur darauf warten, gelesen zu werden.