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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Ein Polizist im Generalgouvernement. Die Geschichte von Hermann Jakob
Dr. Brigitte Jacob ist Architektin und Bauhistorikerin in Berlin. Sie ist 1958 in Münster geboren und recherchiert die Geschichte ihres Großvaters, der fünf Jahre vor ihrer Geburt starb.
Ich habe meinen Großvater Hermann Jakob (Jahrgang 1898) nicht kennengelernt, er starb 1953. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war er als Polizist in Dortmund tätig, dort lebte er mit Frau und drei Söhnen und wurde nach dem Überfall auf Polen 1939 in den Distrikt Lublin in das neu geschaffene Generalgouvernement versetzt. Als Polizeiwachtmeister der Gendarmerie war er in Biłgoraj im Einsatz, das ca. 80 km südwestlich von Lublin liegt.
Die Frage, welche Aufgaben Polizei und Gendarmerie neben der Einhaltung von „Recht und Ordnung“ im Generalgouvernement hatten, inwieweit die Zivilverwaltung an der systematischen Deportation und Vernichtung der Jüdinnen und Juden beteiligt war, beschäftigt mich seit langem. Fragen zu diesem Thema wurden in der Familie zwar nicht abgewehrt, doch blieben die Antworten vage und indifferent. „Das ist doch schon so lange her, das möchtest du wirklich nicht wissen“, so lautete die abgründige und zugleich vermeidende Antwort meines Onkels Heinz, dem zweitältesten Sohn meines Großvaters, die sowohl Grauenvolles vermuten ließ als auch Widerstand vermittelte, sich daran erinnern zu wollen.
Meine Suche begann 2008 mit einer Anfrage zur NSDAP-Mitgliedschaft (mein Großvater war seit 1.Oktober 1940 Parteimitglied) beim Bundesarchiv Berlin und führte über das Studium wissenschaftlicher Sekundärquellen schließlich zur Durchsicht umfangreicher digitaler Aktenbestände des Bundesarchivs zur Polizeiarbeit im Distrikt Lublin. Dies offenbarte mir den gesamten Kontext über Aufgaben und Abläufe. Und dieser reale Zusammenhang zwischen Unterdrückung, Vertreibung, Deportation und Vernichtung im Alltag der Gendarmerie wurde schließlich durch diese Recherchen fassbar, unmissverständlich und inhaltlich konkret.
Gibt es historische Hinweise, die meinen Großvater, der durchaus unpolitische, sehr gesellige Familienmensch, in Biłgoraj in die Verantwortung nehmen können?
Schon kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde neben dem Aufbau ziviler Verwaltungsstrukturen durch die Polizeiverwaltung ab Oktober 1939 parallel die gezielte Vertreibung der polnischen und jüdischen Bevölkerung vorbereitet und die Gendarmerie übernahm von Beginn an integrative Dienste. Eine der relevanten Aufgaben stellte die sogenannte „Partisanen- und Banditenbekämpfung“ dar, an denen mein Großvater beteiligt war. Ein undatiertes Foto, das er zur Familie nach Hause schickte, zeigt ihn in einem Pferdeschlitten im Winter und er notiert dazu: „Banditenaktion in Hedwiżyn“.
Die Gendarmerie, die sich am Ort am besten auskannte und auch Kontakt zu den Einwohnern und Einwohnerinnen besaß, war für die Durchführung der „Aktionen“ immens wichtig. Doch ging es nicht nur um die Bekämpfung des Widerstands in der Bevölkerung, sondern auch um die Aussiedlung und Deportation der Jüdinnen und Juden. Für das Stadtgebiet von Biłgoraj mit über 60 Prozent jüdischer Bevölkerung und den Landkreis begann im August 1940 die systematische Verfolgung und Entrechtung mit der Einrichtung eines Ghettos im Stadtzentrum. Mein Großvater lebte und arbeitete mit elf weiteren Polizisten am Gendarmerie-Posten Biłgoraj und man kann davon ausgehen, dass auch seine Dienststelle in die Ghetto-Organisation eingebunden war. Denn schon Anfang 1940 wurde festgelegt: „Die Durchführung der Gefangenentransporte in den Landkreisen ist Aufgabe der zuständigen Gendarmerie-Dienststellen.“1
Mein Großvater - wie die gesamte Gendarmerie - wurde aber auch zu übergeordneten Einsätzen im Distrikt beordert. Hermann Jakob schrieb aus Lublin an seine Frau Ende November 1941 einen Brief, in dem er ihr seine überraschende Rückkehr von Lublin nach Biłgoraj mitteilte und hinzufügte: „Ich bin im Moment wie vor den Kopf geschlagen, warum und weshalb will keiner wissen…aber ich kann wieder ruhiger schlafen und brauche mir keine Gedanken mehr zu machen. So ist also mein Wille in Erfüllung gegangen.“ Seine Rückkehr mag im Kontext mit einem auswärtigen Einsatz zur Bekämpfung entflohener Kriegsgefangener stehen, denn es findet sich sein Name auf einer entsprechenden Teilnehmerliste vom Dezember 1941.2
Ab März 1942 wurde die Deportation von über 3000 internierten Jüdinnen und Jüdinnen und Juden im Ghetto Biłgoraj vorbereitet, an dem auch das berüchtigte Polizeibataillon 67 beteiligt war. Drei (Majdanek, Sobibor, Bełżec) der insgesamt sechs Vernichtungslager befanden sich im Distrikt Lublin und damit in erreichbarer Nähe von Biłgoraj. Im Rahmen der „Aktion Reinhard“ erfolgte die erste „Aussiedlung“ von 1000 Jüdinnen und Juden am 9. August 1942 in das 60 km entfernte Vernichtungslager Bełżec, die zweite Deportation im Rahmen der „Aktion Erntefest“ dann am 2. November. „Gendarmeriebeamte waren auch bei der zweiten Aussiedlung der Jüdinnen und Juden aus Biłgoraj … eingesetzt. Dabei deportierte man etwa 2500 Menschen nach Bełżec und tötete 300 vor Ort.“3
Mit großer Wahrscheinlichkeit hat mein Großvater - ab Mai 1942 galt „für die stattfindenden Sonderaktionen“ eine Urlaubssperre - an beiden Deportationszügen teilgenommen. Seine Beförderung zum 1. September 1942 vom Hauptwachtmeister zum „Meister der Gendarmerie“ kann als Anerkennung für seinen zuverlässigen Dienst gesehen werden, wobei es schwer vorstellbar ist, dass diese Beförderung unabhängig von seinen Aufgaben in dieser Zeit zu sehen ist.
Im Januar 1943 wurde durch Gestapo und Gendarmerie das Ghetto in Biłgoraj aufgelöst, die letzten verbliebenen Jüdinnen und Juden ermordet, so dass ab 1943 keine Jüdinnen und Juden in der behördlichen Bevölkerungsstatistik mehr erwähnt wurden.
Um auch die polnische Bevölkerung im Landkreis vollständig umzusiedeln, erfolgte eine weitere „Säuberungswelle“, um Platz für „volksdeutsche“ Aussiedler zu machen: „Im Juni/Juli 1943 fand die Großaktion ‚Werwolf I und II‘ im Kreise Biłgoraj statt. Bei dieser wurden vorwiegend die noch durch polnische Bevölkerung besiedelten Dörfer…überholt und die Bevölkerung…restlos ausgesiedelt und in die Auffanglager…verbracht.“4
Auch wenn sich bis dato kein namentlicher Nachweis finden ließ, dass mein Großvater konkret an Verbrechen beteiligt war, so ist doch eines ganz deutlich: Er wird Bescheid gewusst haben über alle sich aus politischen Entscheidungen ergebenden Maßnahmen und deren Durchführung. Was er zu tun hat, wie zu handeln, was einzuhalten und wie vorzugehen, was zu vermeiden und worauf zu achten ist – all das war der Kompass für seine Arbeitsabläufe, war integraler Bestandteil seines Denkens und seiner faktischen Arbeit als gewissenhafter, pflichtbewusster Polizist. Und aus der Anpassung an diese Strukturen ergibt sich tatsächliche Verantwortlichkeit.
Ein später in der Familie umgedeutetes Nichtwissen meines Großvaters und damit seine Unschuld lassen sich nicht begründen; nach 1945 ersetzten das umfassende Verdrängen und sicher auch eine große Scham mögliche Gespräche. Es bleibt für mich - aus der Kenntnis unserer familiären Verbindung, aber ohne persönliche Erfahrung mit ihm - die Frage, wie diese Zeit sein späteres Leben geprägt, beeinflusst und er diese Jahre aus der Distanz betrachtet hat. Das hätte ich ihn gern selbst gefragt.
Quellen und Literatur
1 BArch R 70-Polen/338/1039-B-29.
2 BArch R 70-Polen/311/1005-14.
3 Wolfgang Curilla, Der Jüdinnen und Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, S. 792.
4 BArch R 70-Polen/326/1012-01.