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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Zwischen Verdrängung und Nachdenklichkeit
Norbert Schücker ist 1957 geboren. Seit einem Jahr arbeitet er ehrenamtlich im Besucherdienst der Villa ten Hompel. Er berichtet über die Wehrmachts- und Gefangenschaftserlebnisse seines Vaters August Schücker.
Mein Vater August Schücker kam 1921 als zehntes Kind eines Landwirts mit kleinem Viehbestand und angeschlossener Holzschuhmacherei in Graes, einem Dorf an der deutsch-niederländischen Grenze bei Ahaus, zur Welt. Bereits ein Jahr später starb der Vater, so dass seine Mutter und die älteren Geschwister ihn erzogen. Er selbst beschreibt seine Kindheit als recht glücklich, obwohl es an Geld und materiellen Dingen mangelte. Die älteren Brüder sicherten das Überleben der Familie teilweise durch Schmuggelei von Kaffee und Zigaretten. Die Kindheit meines Vaters war geprägt von einer – wie wir heute sagen würden – extremen Nachhaltigkeit, was auf seine spätere Lebensweise abfärbte: Fast alles wurde verwertet, wenig weggeworfen.
Nach einer achtjährigen Volksschulausbildung leistete er ab 1935 ein „Landjahr“, um anschließend in Epe in einer Textilfabrik Geld zu verdienen. Im Herbst 1939 wurde allen jungen Männern aus der Fabrik gekündigt, damit sie sich beim Arbeitsamt für die Wehrmacht melden sollten. Später mussten Zwangsarbeiterinnen diese Arbeit übernehmen. Zum Zeitpunkt der Meldepflicht, so berichtete er, sei er wegen eines Arbeitsunfalls krankgeschrieben gewesen, so dass er nicht zum Arbeitsamt ging. Da er aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen keinen neuen Termin erhielt, arbeitete er auf Anraten seines ältesten Bruders zunächst in der Holzschuhmacherei. Er versuchte, die Wehrmacht zu umgehen, weil ein älterer Freund schon früh beim Überfall auf Polen gestorben war. Den Ratschlag eines anderen Bruders, er möge doch Polizist werden oder in die SS eintreten, kam für ihn nicht in Frage, weil beide Organisationen, wie er rückblickend sagte, „militärähnlich“ seien. Im Dorf fiel bald auf, dass er nicht eingezogen wurde, so dass ein Bekannter ihm riet, sich für einen kriegswichtigen Betrieb zu melden. So fing mein Vater 1940 bei der Reichsbahn als Gleisbauarbeiter an.
Trotzdem wurde er 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Nach der militärischen Ausbildung in Berlin-Karlshorst war er als Pionier in Russland. Er gehörte zur 1. Panzerarmee, die 1942 von der Krim bis in den Kaukasus vorstieß. Auf einigen Fotos aus dieser Zeit, die ich in der Kindheit gesehen habe, sieht man junge Männer im kaukasischen Sommer in Unterhemden, wie sie eine Brücke bauten. Dazu Schnappschüsse neben kosakischen Reitern und Berglandschaften mit dem schneebedeckten Elbrus im Hintergrund. Mein Vater sprach von mir unbekannten Flüssen wie Terek und Kuban. Man könnte an Pfadfinderlager oder Hüttentouren denken. Aber es war ein blutiger Überfall und führte zu Zerstörung und Leid in den besetzten Gebieten. An welchen Verbrechen die Einheit meines Vaters eventuell beteiligt war, konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen. Die wenigen Erzählungen meines Vaters aus dieser Zeit klangen auch nicht romantisch: Halb erfrorene Zehen, Todesangst vor einer nahenden russischen Patrouille bei einem Botengang, der Tod eines jungen Rekruten, der in den Armen meines Vaters starb. Mit Glück hat mein Vater die Zeit bis 1943 überlebt, dann durfte er wegen des Todes seiner Mutter für einige Wochen nach Hause. Vor seiner Rückkehr nach Russland hörte er mit einem Freund BBC und erfuhr dabei, dass sich die Wehrmacht vom Kaukasus zurückgezogen hatte. Wieviel Glück er hatte, erfuhr er erst in Odessa, als er einer anderen Einheit mit dem Hinweis zugewiesen wurde, die alte Kompanie sei vollkommen „zerrieben“ worden, kaum einer habe überlebt.
Nun nahm er an dem Rückzug über die Krim und die Ukraine teil. Im August 1944 wurde er mit einigen anderen Soldaten versprengt. Sie versuchten sich allein durchzuschlagen. Dabei hatten sie Angst sowohl vor der Gefangennahme durch die Russen als auch vor dem Aufgreifen durch die Deutschen, da der Kommandeur, General Schörner, versprengte Soldaten rigoros als Deserteure erschießen ließ. Am 28. August wurde die Gruppe in Rumänien gefangen genommen.
Mehrere Wochen verbrachten sie im Freien mit der alten Uniform als einziger Kleidung. Erst im Oktober konnten sie sich waschen und wurden „entlaust“.
In der folgenden Zeit war er von 1944 bis 1949 in Gefangenenlagern in der Ukraine. Die Kriegsgefangenen wurden im Bergwerk und bei der Feldarbeit eingesetzt. Nach seinen Erzählungen war die Arbeit sehr hart und die Verpflegung äußerst karg, so dass viele Gefangene bei Erkrankungen wie z.B. der Ruhr keine Widerstandskräfte mehr hatten und starben. Die russischen Bewacher übten wenig Nachsicht, bei Vergehen drohten harte Strafen. Mein Vater berichtete auch, dass die russische Bevölkerung teilweise den Gefangenen durch Essensgaben geholfen hat. 1949 wurde er entlassen. Er wog noch 45 kg. Nach seinen Angaben überlebten von etwa 1.000 Gefangen nur circa 150.
Nach dem Krieg arbeitete er wieder bei der Bahn und gründete in Münster eine Familie. Wie so viele Deutsche in der Nachkriegszeit suchte er in einer Familie mit einem kleinen Eigenheim sein Glück und hat es wohl auch gefunden. Er war ein sehr humorvoller, freundlicher und hilfsbereiter Mensch, bewegte sich gern in der Natur, war handwerklich geschickt mit viel Ideenreichtum.
Allerdings blieben Themen über die NS- und Kriegszeit meist ausgeklammert. Bei Besuchen von Freunden wurden unter Alkoholeinfluss mitunter „Heldentaten“ erzählt. Allerdings überwogen bei meinem Vater die nachdenklichen Geschichten.
Bis ins hohe Alter war er bei geistiger Klarheit zufrieden und aufgeschlossen. Allerdings zeigte er bei Krankheit und Tod außerhalb der engen Familie eine Emotionslosigkeit, die meine Schwester und mich erschreckte. So verstand er als Zugführer nicht, dass junge Kolleg*innen psychologische Betreuung brauchten, nachdem sich ein Mensch vor den Zug geworfen hatte.
Wir vermuten, dass er traumatische Kriegserlebnisse einfach nur verdrängte. Die Aufarbeitung der Erlebnisse hat – wie für viele andere – gar nicht stattgefunden. Er hat einen früheren „Kriegskameraden“ im Alter von etwa 80 Jahren besucht. Obwohl sie sich gut verstanden haben, wollte mein Vater keinen Gegenbesuch, weil er mehrere Nächte nicht schlafen konnte.
Er ist im Februar 2023 mit fast 102 Jahren verstorben. Er hat immer wieder gesagt: „Man hat mir die schönsten Jahre des Lebens gestohlen“. Im Gegensatz zu anderen konnte er sich durch sein langes Leben in Gesundheit einen Teil zurückholen.
Ob mein Vater aktiv an Verbrechen an der russischen Bevölkerung beteiligt war, weiß ich nicht. Er wird aber vermutlich so häufig mit Tod von deutschen und russischen Soldaten, von Zivilpersonen oder Kriegsgefangenen konfrontiert gewesen sein, dass ihm offensichtlich ein Weiterleben nur durch Verdrängen und Ausblenden möglich schien.