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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Als Polizist in Bosnien
Dr. Katja B. Zaich ist die Enkeltochter von Wilhelm Zaich. Sie ist Exilforscherin und Sprachtrainerin. Ihr Mann Dr. Erik Sengers ist Militärseelsorger und Professor für katholische Militärseelsorge an der Universität Tilburg (NL). Sie leben in Amsterdam.
Anfang März 1944 kommt der Polizeiinspektor Eugen Friedrich Wilhelm Zaich mit dem Zug nach Zagreb. Von dort reist er weiter nach Banja Luka, wo er sich bei seinem Polizeibataillon meldet. Sie hatten ihn noch nicht erwartet. Er habe „das Batl. als Leit. zu übernehmen“, schreibt er in seinem Brief an die Familie. Was das genau bedeutet, ist unklar, aber deutlich ist, dass er beim Stab des Polizeibataillons eingeteilt ist. Seine Arbeitsbereiche bis zu diesem Zeitpunkt lagen immer in der Verwaltung (Geld, Material, Kleidung, Munition usw. beschaffen) und dies wird er auch in den Orten des heutigen Bosnien getan haben. Er erwartet einen ruhigen, ungefährlichen Einsatz in einem Gebiet, in dem es viele Menschen gibt, die Deutsch sprechen und Deutschen gegenüber aufgeschlossen sind. Aber den größeren Rahmen erwähnt er gegenüber seiner Familie nicht: Das Polizeibataillon besteht aus kroatischen Freiwilligen, die massive Kriegsverbrechen an Juden und Serben begehen. Die deutsche Bevölkerung sollte geschützt, aber auch ins Reichsinnere umgesiedelt werden. Ungefährlich ist es nicht: Aus dem Osten kommt die Rote Armee, aus dem Süden die Amerikaner, und um ihn herum kämpfen die Partisanen.
Mein Großvater Wilhelm wird 1906 in Frankfurt am Main als Sohn eines Schuhmachers geboren. Nach dessen Tod heiratet meine Urgroßmutter den Bruder ihres verstorbenen Mannes und so wird der Onkel Wilhelms Stiefvater und Vater seiner Schwester. Die Familie lebt in der Nähe von Heidelberg. Nach der Realschule will Wilhelm Verwaltungsbeamter im Raum Heidelberg-Mannheim werden, aber trotz eines guten Zeugnisses wird er 1923 wegen Sparmaßnahmen entlassen. 1924 schlägt er dann die Polizeilaufbahn ein und kommt zur Landespolizei in Heidelberg. 1932 heiratet er Barbara. Auf dem Hochzeitsfoto trägt er seine Uniform, sie ein dunkles Kleid. In der Familie wurde erzählt, er habe kein Geld für einen Hochzeitsanzug gehabt und sie habe wegen des Todes ihrer Mutter Trauer getragen. Das junge Paar zieht nach Mannheim, sie lieben die Großstadt. Obwohl er inzwischen auch die Verantwortung und Sorge für den 1933 geborenen Sohn hat, quittiert er 1936 den Dienst. Die Gründe dafür sind unklar, aber eine Ursache könnte die Überführung der Landespolizei in das Heer sein: Wollte er da einem Risiko entgehen?
Nach einer schwierigen Zeit, in der er sich weiterbildet und für den öffentlichen Dienst bewirbt, kommt er 1938 als Verwaltungsbeamter in die Wirtschaftsabteilung des Polizeipräsidiums Mannheim. Seine Einheit von Polizeireservisten ist ab 1940 in Metz im besetzten Frankreich. Hierhin begleiten ihn seine Frau und seine inzwischen drei Kinder. Mein Vater war das jüngste Kind, Ende 1939 geboren, und kannte diese Zeit nur aus Erzählungen. Überhaupt hatte er keine persönliche Erinnerung an seinen Vater. Im August 1941 wird Wilhelm aufgrund von Beschuldigungen der doppelten Buchführung in einem größeren Wirtschaftsdelikt festgenommen. Er wird freigesprochen und im Dezember 1941 aus der Haft entlassen, im September 1942 jedoch in die Polizeidirektion Duisburg strafversetzt. Von dort reist er 1944 zum Kriegseinsatz nach Bosnien.
Der Lebensweg von Wilhelm Zaich lässt sich relativ gut rekonstruieren. Als guter Verwaltungsbeamter hat er alles Mögliche aufbewahrt, was in der Familie blieb: Schulzeugnisse und Aufsätze der Heeresfachschule, Bewerbungsunterlagen und Empfehlungsschreiben, der Wehrpass und Einstellungsurkunden, Fotos und über 100 Briefe aus Bosnien. Aus dem Bundesarchiv gibt es Dokumente zur Wirtschaftsaffäre und auch die posthumen Entnazifizierungsdokumente sind bewahrt geblieben (seit 1938 war er NSDAP-Mitglied). Vielleicht gibt es in den Stadtarchiven von Mannheim, Heidelberg oder Wiesloch noch Hinweise und Informationen zur Person, was noch zu prüfen wäre. Aber wo sein Lebensweg relativ klar ist, so ist sein Einsatz ziemlich unklar. Es gibt mittlerweile viele Publikationen zur Polizei im Zweiten Weltkrieg, aber nicht zum Einsatz in Bosnien und Kroatien. Auch die Geschichte der Deutschen in dem Gebiet findet bei nur wenigen Fachleuten Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, dass die Kriegsereignisse und Truppenbewegungen auf dem Balkan sehr chaotisch waren. In Kontrast mit der dürftigen Literatur steht, dass die Orte, in denen Wilhelm gewesen ist, ziemlich intakt geblieben sind und wir uns deswegen gut in seine Lage einleben können: Rudolfstal/Aleksandrovac, Windthorst/Nova Topola, Banja Luka, Đakovo, Zagreb usw.
In seinen Briefen berichtet Wilhelm ziemlich positiv über seinen Einsatz. Für ihn ist Bosnien eine märchenhafte, „orientalische“ Welt. Dazu gibt es auf dem Balkan genug zu essen und zu trinken, was er als Lebensgenießer zu schätzen weiß. Auch schickt er viele Pakete mit Lebensmitteln an seine Familie. Er beschreibt, wie er von prominenten Bürgern, von Kirchenfunktionären und Handelsleuten eingeladen wird. Über seinen Einsatz schreibt er wenig, vermutlich waren seine Aufgaben nicht abwechslungsreich. Aber auch die Entwicklungen und Wege des Bataillons bleiben unerwähnt. Allerdings ist die Gefahr nicht weit weg, die Partisanen nennt er ausnahmslos „Banditen“ und die Übergriffe von „Tito’s Räuberhorden“ auf Flüchtlingstracks wertet er mit „So führen sich Befreier auf!“. Aber in seinen Briefen nimmt er auch so weit wie möglich seine Aufgabe als Familienvater wahr: Wo soll der älteste Sohn zur Schule gehen, warum schreibt die Tochter nicht öfter, die kranke Ehefrau sollte doch einen Facharzt aufsuchen, kann seine Frau ihm Kleidung besorgen, soll er noch Geld überweisen, wie geht es den Verwandten und vor allem: Warum bekommt er nicht mehr Post? Die Briefe erscheinen oberflächlich nicht ideologisch.
Der letzte Brief ist von Ende Februar 1945. Mein Großvater gilt als verschollen. Meine Tante, die als letzte der Kinder noch lebt, erzählt, es seien öfter Kameraden vorbeigekommen, die erzählten, wo sie den Vater zum letzten Mal gesehen hätten. Meine Großmutter, die herzkrank war und drei Kinder zwischen fünf und elf Jahren hatte, ließ ihren Mann schon im Sommer 1945 entnazifizieren, um finanzielle Unterstützung zu bekommen. Alte Kollegen und Untergebenen beschreiben ihn als gerecht, humorvoll und unideologisch. In den 50er Jahren ließ meine Großmutter ihren Mann schließlich für tot erklären. Laut dem Roten Kreuz war die Situation im Frühjahr 1945 auf dem Balkan so chaotisch, dass man davon ausgehen muss, dass er umgekommen ist. Mein Vater hat über Jahrzehnte mehrmals versucht, Näheres über den Verbleib seines Vaters herauszubekommen, hat mit dem Roten Kreuz und mit der Kriegsgräberfürsorge korrespondiert. Viel Neues hat man nicht erfahren.