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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Ich bin ein Nachkriegskind
Nura Ursula Schmidt ist als Nachkriegskind in die junge Bundesrepublik geboren und ist in der ständigen inneren Auseinandersetzung über die Kriegsverbrechen und den aktiven Polizeibataillon-Dienst ihres 1915 geborenen Vaters Hermann Schmidt.
Ich bin ein Nachkriegskind, aufgewachsen mit zwei Kriegen und mehreren Sichtweisen: aktiver Kriegseinsatz des Großvaters im Ersten Weltkrieg und des Vaters im Zweiten Weltkrieg, ziviles Kriegserleben der Mutter, eine im Krieg geborene Schwester. Mir gehörte „Wenn Du wüsstest, wie gut es Dir geht“.
Es gibt den Großvater, 1915 in Verdun gefallen und doch allgegenwärtig in Fotos und Geschichten. Ich fühle mich dem Großvater durch seine berührenden Briefe und Notizen aus Verdun verbunden. Und habe nach jahrelanger Suche sein Grab in Servon gefunden, das ich so oft wie möglich besuche.
Nachdem mein Vater (geboren 1915) kurz vor dem Ende seiner Ausbildung als technischer Zeichner im Zuge der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit verloren hatte und die Firma geschlossen worden war, ging er von 1934 bis1936 zur Polizeischule in Bonn. Dann wurde er zum Wehrdienst in die Wehrmacht versetzt und besuchte dann wieder bis 1939 die Polizeischule Köln mit Versetzung in das Polizeibataillon 63, das bald darauf in die Tschechoslowakei nach Brünn kommandiert wurde, von dort zum Einmarsch in Polen. Ab Sommer 1941 war er mit dem Polizeibataillon 64 in Serbien. Bei den Gesprächen über die Kriegszeit, die immer geführt wurden, wenn Männer sich in den 1950er Jahren trafen, denn jeder hatte Krieg und Gefangenschaft erlebt, fielen immer die Begriffe „Partisanen-“ oder „Banditenbekämpfung“.
Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre meldete sich die Polizeidirektion Köln und umwarb meinen Vater, wieder in den Polizeidienst zu kommen. Es wurde ihm ein Ausbilder-Posten angeboten, den er ablehnte mit der Begründung, er würde nie wieder eine Uniform tragen.
Etwa 1962 begann der Ausschwitz-Prozess. Mein Vater starb im März 1965 drei Monate vor Prozess-Ende an einem wandernden Granatsplitter, der eine Gehirnthrombose ausgelöst hatte. Mir ist der Prozess in Erinnerung, weil mein Vater mir in der Nachbarschaft ein Haus zeigte, in dem jemand Suizid begangen hatte, als dieser eine Vorladung des Gerichts bekam. Er erklärte mir, dass jetzt Polizeibataillone und Waffen-SS Kriegsverbrechen beschuldigt werden. Ich war mit 13 Jahren zu jung, um Fragen zu formulieren. und nicht zuletzt auch, weil das Wissen um den Holocaust erst sukzessive nach dem Prozess bekannt wurde.
Ich wusste mittlerweile, dass er mit der Waffen-SS in Frankreich, Korsika und Italien war. Er erklärte mir, dass Himmler als der Oberste Chef der Polizei und der Waffen-SS Dienstgrade der Polizei in die Waffen-SS übernommen habe, weil dort ab 1943 Führer fehlten. Es war ihm wichtig, mir zu sagen, dass er sich nicht freiwillig dorthin gemeldet hatte, sondern versetzt worden war.
Der erste Zweifel an dieser Harmlosigkeit kam auf mit der 68er-Bewegung, verstärkte sich mit meiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt durch den Umgang mit der Tagespolitik. Die Wehrmachtsausstellung war mein persönliches Schlüsselerlebnis, da nicht mehr wie bisher vor allem die Waffen-SS im Fokus stand, sondern nun auch verstärkt die Polizeibataillone und die Wehrmacht. Auf einem Foto mit deutschen Kriegsgefangenen, das in der Ausstellung gezeigt wurde, erkannte ich meinen Vater. Er hatte bei Kriegsende in Ungarn gekämpft und sich mit seinen Panzern in die Steiermark abgesetzt und dort den Engländern ergeben.
Mit der Wehrmachtsausstellung begann meine intensive Recherche über die Polizeibataillone. Es gab Briefe eines in der ehemaligen DDR lebenden ‚Kameraden‘, der als 17-Jähriger mit meinem Vater in einem Zelt die Gefangenschaft teilte. Mit ihm nahm ich Kontakt auf und besuchte ihn nach der Wiedervereinigung. Er erzählte mir viel über meinen Vater aus diesen gemeinsamen Jahren, die er ohne die Kameradschaft meines Vaters nicht überlebt hätte. Immer wieder dieses Wechselbad der Gefühle. Ich las Bücher von Historikern über Holocaust und das Dritte Reich, Bücher von Überlebenden des Holocaust und auch über die Erfahrungen und Gefühle der Täterkinder, Analysen von Psychologen und sah jede nur mögliche Dokumentation.
Es gab einen Karton gefüllt mit Fotos, der mir als Kind zugänglich war. Sie zeigten zerstörte Städte und Panzer, Soldaten und Polizisten, Soldatengräber und die Geschichte dazu kurz auf die Rückseite geschrieben wie „1939 Abfahrt nach Brünn“, „mein Oberleutnant Joachim Buchs“…Dieses Foto gab ich der Villa ten Hompel, denn Thomas Köhler verdanke ich mein Grundwissen, auf das ich bei meinen Recherchen aufbauen konnte. Es erleichterte mich, in den angeforderten Akten der Dienststelle in Berlin zu lesen, dass mein Vater nicht Joachim Buchs in Białystok zugeteilt war, der dort Massaker angeordnet hatte, sondern im Raum Kraków und Rzeszów mit dem Polizeibataillon 63/64 blieb. Vielleicht sind deren Taten aber auch nur weniger bekannt. Vor etwa drei Jahren postete ein Hobby-Kriegshistoriker im Forum der Wehrmacht Fotos, die er auf dem Flohmarkt erstanden hatte, die Rückseite beschriftet: Serbien 1941 – und fragte, welches Polizeibataillon das sein könnte. Mir stockte der Atem, als ich meinen Vater erkannte.
Aus dieser Zeit sind mir auch Erzählungen bekannt, die meine Tante mir weitergab. Im Kriegsurlaub hatte mein Vater ihr unter Tränen erzählt, dass er in Belgrad Lastwagen beobachtet hätte, die Menschen wegfuhren und nach kurzer Zeit blutverschmiert zurückgekommen sind. Danach las ich über die Gaswagen, die von den Deutschen vom Lager Sajmiste aus in Belgrad eingesetzt waren. Auf den Spuren meines Vaters reiste ich an die mir bekannten Orte in Polen, Serbien, Ungarn und Italien. Irgendwo in all diesen Recherchen von Polen über Serbien bis Italien liegt die Antwort auf die nächtlichen Albträume, von denen wir - wie sicher auch in andere Familien – geweckt wurden.
Wir hatten einen liebevollen Vater mit wiederkehrenden Malaria-Anfällen aus den Kämpfen in Korsika, immer war also der Krieg präsent. Wir lernten von ihm, dass Hautfarbe und Herkunft nicht wichtig sind, lernten Tierliebe und Freundschaft, die er allerdings Kameradschaft nannte. Das bringe ich bis heute nicht zusammen mit dem Wissen um die Verbrechen der Polizeibataillone und der Waffen-SS und seinem Engagement, bald nach der Kriegsgefangenschaft in unserem Stadtteil die SPD mitzugründen und nie wieder eine Uniform tragen zu wollen.
War er also ein Nazi – jedenfalls wird es von den Einheiten gesagt, in denen er kämpfte? Hat er sich aktiv schuldig gemacht in der „Partisanenbekämpfung“, hat er wie ein Nazi gehandelt? So viele unbeantwortete Fragen. Ist es überhaupt für mich relevant – denn ein Täter ist selber für seine Taten verantwortlich? Doch ich trage seine DNA, aber auch die Werte, die er mir vermittelte.
Ich reagiere überempfindlich auf jedes rechte Denken und Diskriminierung – für meine Scham für das, was von den Deutschen ausging, finde ich keine Worte, aber ist immer präsent in meinem Denken, Handeln, meinen Überzeugungen. Historiker recherchieren Fakten, durch Zeitzeugen erfahren wir, wie diese Fakten gelebt wurden. Ich werde weiter recherchieren, mich schämen und mitschuldig fühlen, und weiter bei jedem neuen Foto einen kleinen Atemaussetzer erleben aus Angst, meinen Vater darauf zu erkennen.
Meine Schwester beschützte mich, wie es meine kriegstraumatisierte Mutter nicht tun konnte. Deren letzte gesprochene Worte waren ein brüchig gesungenes „Ich hatt' einen Kameraden“1.
1: „Ich hatt‘ einen Kameraden“ ist ein Abschiedslied, wie es bei militärischen Begräbnisfeiern und einigen zivilen Trauerfeiern gespielt und gesungen wird. Es war 1809 von Ludwig Uhland während der Napoleonischen Kriege geschrieben worden. |