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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Mitwisserinnen, Helferinnen, Täterinnen
Frauen in der NS-Familiengeschichte
Wenn man auf all unsere „Erzähl mal“-Beiträge der letzten Monate zurückblickt, begegnet einem ein breites Spektrum an unterschiedlichen Geschichten und Biografien. Eine Leerstelle fällt jedoch auf: Protagonisten der Texte sind Väter, Großväter, Urgroßväter und Onkel. Die Frauen in unseren Familien hingegen – Mütter, Großmütter, Urgroßmütter, aber auch Tanten, Cousinen, Schwestern und andere – sind in den meisten Beiträgen höchstens Randfiguren, oft finden sie gar keine Erwähnung. Woran liegt das?
In Bezug auf die NS-Familienforschung scheinen die Gründe dafür auf der Hand zu liegen: Die meisten beruflichen Funktionen, die wir heute eindeutig mit Täterschaft assoziieren, konnten aller Regel nach nicht von Frauen bekleidet werden – in Polizei und Wehrmacht etwa. Trotzdem: Shoa, Porajmos und andere Massenverbrechen waren nicht nur die Angelegenheit von Männern. Frauen wussten Bescheid, billigten und unterstützten diese Verbrechen – entweder direkt als Tatbeteiligte oder indirekt als Mitwisserinnen und Bystanderinnen. Alleine in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im besetzten Polen waren etwa 3.500 Frauen beschäftigt1 – als SS-Helferinnen, Aufseherinnen, Schreibkräfte, Funkerinnen und Fernsprecherinnen zum Beispiel. Auch als engagierte Mitarbeiterinnen der Zivilverwaltungen in den besetzten Gebieten wurden sie zu selbstständig handelnden Täterinnen. Als Ärztinnen und Krankenschwestern beteiligten sie sich darüber hinaus aktiv an Menschenversuchen und wirkten am sogenannten „Euthanasie“-Programm mit. Diese zumeist jungen Frauen hatten damit direkten Anteil an der rassistischen und antisemitischen Politik der Nationalsozialisten.
Einige wenige KZ-Aufseherinnen wurden in der direkten Nachkriegszeit angeklagt und verurteilt. Die allermeisten jedoch entgingen einer Strafverfolgung. Verwaltungs- und Küchenpersonal der Lager wurde gar nicht erst in die Ermittlungen einbezogen – dabei war es gerade diese Arbeitskraft, die den Massenmord logistisch ermöglichte. Die milden Urteile der direkten Nachkriegsjustiz resultierten aus der richterlichen Annahme, dass Frauen eher als Statistinnen der Verbrechen zu sehen seien.
Neben den Frauen, die in ihrer beruflichen Funktion an der Durchführung von Massenverbrechen mitgewirkt haben, gab es auch noch diejenigen, die als Ehefrauen und Mütter das NS-System an der sogenannten „Heimatfront“ stabilisierten. Während KZ-Aufseherinnen offensichtlicher mit Täterschaft in Verbindung gebracht werden können, ist diese Betrachtung bei Frauen, die dem NS-Staat auf anderen, eher privat assoziierten Ebenen dienten, schon komplexer. Als Fürsorgerinnen, Hebammen, Frauenschaftsführerinnen und Arbeitsmaiden kamen ihnen verschiedene Aufgaben für den sogenannten „Volkskörper“ zu. Auch die Ehefrauen von SS-Männern, die sich zur Elite der „SS-Sippengemeinschaft“ zählten und ihre Männer moralisch und praktisch bei ihrer Tätigkeit unterstützten, waren keine kleine Gruppe: Zwischen 1933 und 1945 heirateten immerhin 240.000 Frauen einen SS-Mann.2
Doris L. Bergen schreibt, dass einschlägige Forschungspositionen wie Christopher Browning und Daniel Goldhagen es lange versäumt haben, „zu hinterfragen, wie Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Dynamik extremer Gewalt beeinflussten.“3 Aus überlieferten Feldpostbeständen sind uns zahlreiche Beispiele bekannt, in denen Mitglieder der Ordnungspolizei, der Wehrmacht und von Einsatzgruppen Aufnahmen und Schilderungen ihrer Gewalttaten nach Hause zu ihren Partnerinnen schickten. Einige Männer hinter der Kamera wollten ihre Beteiligung an derartigen Taten offenbar festhalten, verspürten vielleicht Stolz angesichts ihrer Eroberungen. Ein anderer Grund dafür, dass Fotos an die Familien daheim geschickt wurden, kann in dem Bedürfnis liegen, die Last der Schuld zu verteilen. Wenn eine Frau ihrem Mann auch nach dem Bekanntwerden seiner Gewaltausübung noch Liebe und Akzeptanz signalisierte, ermöglichte ihm dies, sich selbst als liebenswert und anständig zu sehen. Das erleichterte ein Normalisieren oder ein Vergessen von derartigen Gewalttaten.
Erschwert wird die Auseinandersetzung mit den Frauen in unseren Familien dadurch, dass historische Quellen nicht geschlechtergerecht überliefert wurden: Frauen produzierten oft weniger Texte aus praktischen Gründen, aber auch aus Gründen des Selbstbewusstseins über die Bedeutung der eigenen Perspektive. Wenn solche Texte entstanden, wurden sie als weniger aufhebenswert wahrgenommen und noch seltener wanderten sie in die Archive. Und im Verlauf des Kriegs gingen weitere Quellen verloren: Briefe zum Beispiel, die von den Männern nach Hause geschickt wurden, sind oft vorhanden, nicht aber die Antworten ihrer Frauen, da diese zum Beispiel im Feld verloren gegangen sind. So lässt sich über die Reaktionen, etwa auf Schilderungen von Gewalttaten des Mannes, oft nur mutmaßen. Die Recherche über Frauen in den Familien ist aber nicht unmöglich: Wenn Lebensdokumente wie Tagebücher und Briefe überliefert wurden oder lebende Angehörige für Gespräche zur Verfügung stehen, lassen sich oft schon erste Hinweise dazu finden, was die weiblichen Familienmitglieder in der NS-Zeit gemacht haben. Wenn es beispielsweise den Verdacht gibt, dass eine NSDAP-Mitgliedschaft bestanden haben könnte, lässt sich das über einen Antrag beim Bundesarchiv unkompliziert herausfinden. Auch Aktivitäten in anderen NS-Organisationen (NS-Frauenschaft, Deutsches Frauenwerk) lassen sich über Recherchen im Bundesarchiv häufig nachvollziehen. Die NS-Frauenschaft, die der NSDAP angegliedert war, hatte 2,3 Millionen Mitglieder. Auch der nationalsozialistische Reichsluftschutzbund mit etwa 15 Millionen Mitgliedern war bis zu 70 Prozent weiblich aufgestellt. Die Frauen waren dort als Luftschutzhelferinnen für Erste Hilfe, Brand- und Gasschutz sowie Meldewesen tätig.
Gerade an einem Schreibtischtäterort, wie die Villa ten Hompel einer ist, ist es wichtig, auch Frauen in ihren unterschiedlichen beruflichen und sozialen Rollen mit in die Familienforschung einzubeziehen. Auch hier arbeiteten zwischen 1940 und 1944 Nachrichtenhelferinnen, die dem Befehlshaber der Ordnungspolizei Heinrich Lankenau unterstellt waren und Anordnungen des Reichsführers SS Himmler per Standleitung nach Berlin entgegennahmen.
Um unserem Anliegen gerecht zu werden, werfen nachfolgend einige der bisherigen Autor*innen unseres Projekts Schlaglichter auf weibliche Personen in ihren Familien während und nach der NS-Zeit.
Annina Hofferberth, Jahrgang 1990
Meine Großmutter Klara, das war in meinem Kopf ganz lange Zeit nur die etwas abwesend dreinblickende Person auf dem Hochzeitsfoto meines Großvaters in SA-Uniform. Allein wegen der Hakenkreuzarmbinde hat er lange meinen Blick auf sich gezogen. Und: Klara starb kurz nach meiner Geburt, ich habe sie so wie meinen Großvater nie kennengelernt. Erzählt wurde über sie wenig, erst auf Nachfrage erfuhr ich: Ihre Familie war gut situiert, sie selbst ging als Haushaltshilfe nach Darmstadt, wo sie meinen Opa kennen lernte. Wie sie eigentlich dorthin kam, was genau sie beruflich gemacht hat? Unbekannt. Was man überhaupt über sie erfährt, ist von einem männlichen Blick geprägt, denn mein Opa schrieb Gedichte an und über sie. In diesen erscheint meine Großmutter als eine Frau, die sich lange umwerben ließ und den Avancen des in den Gedichten natürlich charmant daherkommendem Hermann lange widerstand. Als sie dann zusammenkamen, erscheint sie in den rückblickenden Erzählungen vor allem als eins: als eine unpolitische Mutter, die im Krieg in einer Munitionsfabrik im Nachbardorf arbeitete. Diese Arbeit hätte sie mit Widerwillen erfüllt. Doch so einfach kann ich es nicht sehen: Immerhin war sie eine Frau, die Zeit ihres Lebens wohl viel Tageszeitung gelesen hat, die also offensichtlich am Weltgeschehen und der Gesellschaft interessiert war. Aber jenseits dieser Anekdoten bleibt sie merkwürdig blass – wie auf dem Hochzeitsfoto, auf dem sie in die Ferne blickt.
Karolin Baumann, Jahrgang 1993
Noch heute werden in meiner Familie Anekdoten über die Sparsamkeit meiner Oma erzählt, die gestorben ist, als ich neun Jahre alt war. Nach dem Krieg hatte man eben nichts, da habe sie sich angewöhnt, alles zu verwerten, wie eine Weltmeisterin einzukochen und selbst Verdorbenes noch zum Verzehr auf den Tisch zu stellen. Mein Vater sagt, die einzige Geschichte, die sie je über den Krieg erzählt habe, war, dass sie einmal bei Luftalarm mitsamt Kinderwagen in den nächsten Graben springen und sich dort verstecken musste. Ich glaube nicht, dass die einzigen Erinnerungen meiner Oma an die NS-Zeit Luftkrieg und Rhabarberkompott waren. Sie hat die Machtübergabe an die Nationalsozialisten als erwachsene Frau erlebt, diese vielleicht sogar gewählt, ihr Mann – mein Opa – war Parteimitglied und Oberleutnant der Luftwaffe. Aber ihre Antworten auf seine etlichen Feldpostbriefe sind ebenso wenig erhalten wie etwaige Tagebücher, und so fällt es mir schwer, ihre politische und weltanschauliche Überzeugung zu rekonstruieren. Die Kriegsauszeichnungen meines Opas – Frontflugspangen für erfolgreiche „Feindflüge“ und Ehrenpokale – standen jedenfalls bis zum Umzug meiner Oma in ein Pflegeheim Ende der 1990er wie Trophäen auf dem Wohnzimmerschrank.
Norbert Schücker, Jahrgang 1957
Norbert Schücker, Jahrgang 1957: Im Gegensatz zu den Erzählungen meines Vaters August Schücker spielten die Kindheitserinnerungen und die Kriegserlebnisse in Gesprächen mit meiner Mutter Gertrud eine sehr untergeordnete Rolle. Meine Mutter, geboren 1923, hat zwar gelegentlich über ihr Aufwachsen in der großen Familie mit acht Geschwistern gesprochen, etwas über den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen auf das Leben in der Bauernschaft oder im Dorf hat sie nicht erzählt. Der Krieg wurde zwar als große Tragödie empfunden, weil einer ihrer Brüder als Soldat starb und weil in ihrem Heimatdorf viele Menschen in den letzten Kriegstagen durch einen Fliegerangriff getötet wurden. Die Kriegsschuld Deutschlands wurde gern verdrängt. Wie viele ihrer Freundinnen und Bekannten berief sie sich gern darauf, dass sie „ja nichts gewusst habe, so ein Dorf ist ja weit abseits des Geschehens gewesen“.
Adalbert Hoffmann, Jahrgang 1949
Wenn meine Mutter über den Krieg sprach, erzählte sie oft von ihrer Tätigkeit als Luftschutzhelferin. Sie erinnerte sich an einen Helm, den sie tragen, an eine Kübelspritze, die sie betätigen, und an eine Feuerpatsche, die sie schwingen musste. Sie bot uns Kindern das immer mit viel Gelächter dar: Seht, wie lächerlich das war, eine Feuerpatsche gegen die Bomben. Erst vor kurzem hatte ich zur NS-Vergangenheit meiner Mutter dann zwei Buchstaben in einem Brief meines Vaters gefunden. Sie war, schrieb er einmal beiläufig, „PG“ gewesen: Parteigenosse. Ich wollte das nicht glauben, das musste ein Irrtum oder ein Schreibfehler sein. Irgendwie passte das gar nicht zu ihr, war schier unvorstellbar. Doch vom Bundesarchiv erfuhr ich, dass sie zu den etwa 1,5 Millionen Deutschen gehörte, die nach der Machtübertragung mit dem Datum 01.05.1933 und einer Nummer von drei Millionen und irgendwas in die Partei eintraten. Zu diesem Zeitpunkt war sie erst 21 Jahre alt. Trotz der Auskünfte des Bundesarchivs bleiben viele Fragen: Warum war meine Mutter in die Partei eingetreten, noch dazu als junge Frau? Warum war sie bald danach zur NS-Frauenschaft gestoßen und hat dort für ein gutes Jahr das Amt einer „Blockfrau“ bekleidet? Was ist das überhaupt – eine „Blockfrau“? Mit meinen Fragen und meinem Versuch, diesen auf den Grund zu gehen, bin ich noch lange nicht am Ende.
Ausgewählte Literaturempfehlungen
Kirsten Heinsohn, Barbara Vogel, Ulrike Weckel (Hrsg.): Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland. Frankfurt am Main/New York 1997.
Claudia Koonz: Mothers in the Fatherland: Women, the Family, and Nazi Politics. New York 1987.
Kathrin Kompisch: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus. Köln u.a. 2008.
Marita Krauss (Hrsg.): Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte Bd. 8). Göttingen 2008.
Zoë Waxman, Women in the Holocaust: A Feminist History, Oxford 2017.
Fußnoten
1: Schätzung von Andrea Rudorff: Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Berlin: Metropol 2014. |
2: Marita Krauss (Hrsg.): Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte Bd. 8). Göttingen: Wallstein 2008, S. 8. |
3: Doris L. Bergen: „Ganz normale Männer – und das Vergessen der Frauen in ihrem Schatten: Geschlechterproblematik in der Holocaust-Forschung von Christopher Browning“, in: Thomas Köhler, Jürgen Matthäus, Thomas Pegelow Kaplan, Peter Römer (Hg.): Polizei und Holocaust Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men. Bielefeld: Brill Schöningh 2023, S. 45–58, hier S. 53. |