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"Erzähl mal..." Spurensuche zur NS-Familiengeschichte
Wer ist Theo?
Barbara Arnsberg ist Sozialpädagogin und erzählt von ihrem Großvater Theodor Stahr.
Über meinen Großvater väterlicherseits wurde in unserer Familie nur selten gesprochen. Man hatte mir erzählt, dass Theodor Polizeimajor gewesen sei und dass er an Krebs gestorben sei, als mein Vater zwölf Jahre alt war. Außerdem soll er gutaussehend gewesen sein. Im Wohnzimmer meiner Oma, der Ehefrau von Theodor, hing über dem Schreibtisch ein Schwarzweißfoto von ihm. Es zeigte ihn in einer Polizeiuniform.
Mein Vater erzählte in seltenen Momenten über meinen Großvater, dass er als Kind große Angst vor seinem Vater gehabt habe. Theodor sei ein strenger Vater gewesen, dessen Erziehung er auch mit Gewalt durchsetzte.
Während meines Studiums belegte ich ein Seminar, in dem es um Familiengeschichten ging. Eine Aufgabe dabei war, einen Stammbaum der eigenen Familie bis in die Urgroßelterngeneration anzufertigen. Ich befragte meine Familie und erfuhr vieles zu den einzelnen Familienmitgliedern. Nur nichts über meinen Großvater Theo, nicht, wo er herstammte oder was er im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. Da zu diesem Zeitpunkt außer meiner Tante alle Personen, die meinen Großvater noch persönlich gekannt hatten, verstorben waren, dachte ich mir nichts dabei und habe mich zunächst nicht weiter mit diesem Thema beschäftigt.
Jahre später, während eines langweiligen verregneten Tages, habe ich den Namen meines Großvaters und seine Berufsbezeichnung „Polizeimajor“ im Internet in einer Suchmaschine eigegeben. In einem Text erfuhr ich, dass mein Großvater Kommandeur der Ordnungspolizei des Polizeibataillons 307 gewesen ist. In dieser Zeit war das Bataillon im Einsatz im besetzten Osteuropa. Ihre Aufgabe war das Festnehmen und Hinrichten von sogenannten „Partisanen“, auch wenn es sich bei den ermordeten Personen vielmehr um Zivilist*innen mit jüdischem Hintergrund, Intellektuelle, Kommunist*innen und andere, als feindlich angesehene Personen handelte. Am 13. Juli 1941 beging das Bataillon 307 unter Leitung von Theodor Stahr eines ihrer grauenhaftesten Verbrechen: die Massenexekution von über 4000 Menschen in der Stadt Brest-Litowsk. Dafür trieben die Polizisten die Einheimischen zusammen und exekutierten sie an mehreren Tagen in Gruppen. Die Leichen wurden in große Gruben geworfen. Der Großteil dieser Menschen waren Jüdinnen*Juden. Und mitten drin Theodor Stahr, mein Großvater.
Ich war entsetzt und konnte kaum glauben, was ich dort las. Für so viele Todesurteile sollte ein naher Verwandter von mir verantwortlich sein? Wie konnte ein Mensch so etwas tun? Was war dies für ein Mensch, der denselben Nachnamen wie ich trug? Hatte meine Familie von seinen Taten gewusst? Seltsamerweise schämte ich mich und fühlte mich schuldig, dabei hatte ich diesen Mann doch nicht einmal persönlich kennengelernt. Meine Familie reagierte auf meine Entdeckung desinteressiert oder sogar ablehnend, als ich ihnen davon erzählte. Ich ließ es deshalb erstmal auf sich beruhen.
Heute weiß ich wesentlich mehr über meinen Großvater Theodor dank meiner Tochter Lily. Sie setzte sich mit meinem Großvater erneut auseinander und konnte weitere Informationen über ihn einholen. Das Bild von Theodor und seiner Geschichte setzte sich weiter zusammen.
Theodor Stahr wurde 1894 in Königshütte, heute Chorzów, geboren. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, diente er als junger Mann fünf Jahre lang. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrte er im Alter von 25 Jahren nach Königshütte zurück.
1919 trat er der Schutzpolizei bei. Nach bestandener Offiziersprüfung arbeitete er zunächst in Gleiwitz als Sachbearbeiter und Ausbilder bei der Polizeiinspektion. Innerhalb der nächsten Jahre stieg er die Karriereleiter bei der Polizei weiter auf und wechselte mehrmals seinen Standort: von Gleiwitz über Berlin, Gladbeck-Zweckel, Bottrop bis es ihn im Alter von 35 Jahren nach Buer verschlug, wo er nach einigen Monaten die Position des Reviervorstehers des Reviers Buer-Mitte übernahm. Während dieser Zeit beschrieben ihn seine Vorgesetzten positiv als intelligenten und ehrgeizigen Polizisten, der durch seine Sportlichkeit, seine Kameradschaftlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit auffiel. Er fuhr zudem Motorrad und malte gerne. In seiner Akte wird ebenfalls erwähnt, dass Theodor mit den Ansichten der NSDAP schon Mitte 1931 sympathisierte, genauer „zur nationalen Bewegung“ stand. So soll er zudem in seiner Funktion als Polizeioffizier „Dienste“ geleistet haben, indem er Informationen an die NSDAP weiterleitete und sie gegen „Angriffe Andersdenkender deckte“. Theodor schien sich in diesen Jahren in Buer radikalisiert zu haben. Am 14. Juni 1933 heiratet er Antonia Merz, die Tochter des wohlhabenden Bauunternehmers Romanus Merz. Nur ein paar Wochen vor seiner Hochzeit trat er der NSDAP bei.
1938 verschlug es die mittlerweile kleine Familie – bestehend aus seiner Ehefrau Antonia, seiner zweijährigen Tochter Gertrud und dem Neugeborenen Sohn Günter, meinem Vater – nach Berlin. Theodor arbeitete dort als Hauptmann im 126. Revier in Charlottenburg. Am 1. September 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurde Theodor zum Major ernannt. Er stieg weiter auf, wurde zunächst Adjutant und dann Abschnitts-Kommandeur der Schutzpolizei in Treptow. 1941 wurde er in den Osten versetzt und leitete als Kommandeur das Bataillon 314 in Zamość. Das Bataillon war für die Inhaftierung von Jüdinnen*Juden und polnischen Partisan*innen verantwortlich. Am 11. Juni 1941 übernahm Theodor das Kommando über das Bataillon 307 in Biala Podlaska. Bei den Mitgliedern des 307. Bataillons handelte es sich um gut ausgebildete freiwillige Polizisten, deren nationalistische Einstellung Voraussetzung für ihren Mitgliedschaft war. Am 3. Juli 1941 beging das Bataillon 307 unter seiner Leitung besagte Massenerschießungen in Brest-Litowsk und weitere in Sluzk.
Theodor kehrte am 15. Dezember 1941 nach Deutschland zurück. Er war an einem Herzleiden erkrankt und konnte nicht mehr an der Front eingesetzt werden, obwohl er den Wunsch äußerte, zum Bataillon 307 zurückzukehren. Er war jedoch so stark erkrankt, dass er stattdessen ein Reservebataillon führte und in Deutschland verblieb. Ende 1943 wurde er erneut eingesetzt, jedoch in Italien bei den dortigen Partisanenkriegen, wo er auch in Kriegsgefangenschaft geriet. 1948 verstarb er im verhältnismäßig jungem Alter von 54 Jahren nach seiner Rückkehr nach Deutschland, vermutlich an besagtem Herzleiden, ohne je für seine Taten vor Gericht gestellt zu werden. Auch das Bataillon 307 blieb bis auf den letzten Mann straffrei, obwohl sich an den Morden das gesamte Bataillon beteiligt hatte.
Mir ist nun klar, dass mein Großvater Theodor kein Mitläufer war, sondern dass er durchdrungen vom nationalsozialistischen Gedankengut gewesen sein muss. So heißt es in seine Polizeiakte unter anderem, dass Theodor mit dem nationalsozialistischen Gedankengut „sehr vertraut“ sei und „voll und ganz auf dem Boden der Nationalistischen Weltanschauung“ stehe. Zudem habe er die nationalistische Ideologie an seine Untergebenen weitervermittelt. In Theodors Akte ist auch beschrieben, dass die Verbindung zu den Einsatztruppen im Osten zeitweise schwierig war und Theodor eigenmächtig handeln musste, was er wohl zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten getan hat. Ihm wurde sogar das Ehrenabzeichen „Eisernes Kreuz zweiter Klasse“ für seinen Einsatz im Osten verliehen.
Mir ist auch bewusst geworden, dass meine Oma Antonia und ihr Vater Romanus, der nach Erzählungen meiner Familien ein guter Freund von Theodor gewesen sein soll, seine Gesinnung mindestens akzeptiert haben mussten. Ob sie diese vielleicht sogar geteilt haben, konnte ich noch nicht herausfinden. Auch ob sie von seinen schrecklichen Verbrechen im Krieg wussten, konnte ich nicht ergründen. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass einige Fragen über Theodor für immer offen bleiben werden. Ich bin meiner Tochter jedoch dankbar, dass sie mich veranlasst hat, mich noch einmal intensiver mit meinem Großvater zu beschäftigen.
Es fällt mir inzwischen leichter, anderen von ihm und seinen schrecklichen Taten zu erzählen. Meiner Ansicht nach ist es wichtig, auch über die Täter zu sprechen, die man eben auch in der eigenen Familie antreffen kann.