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Öffentlicher Raum
Völkerschauen: Menschen als Ausstellungsobjekte
"Völkerschauen" waren vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er-Jahre ein in Europa verbreitetes und beliebtes Freizeitangebot. Für den deutschsprachigen Raum lassen sich über 400 Gruppen nachweisen, die zwischen 1875 und 1930 in Zoologischen Gärten, in Weltausstellungen, auf Volksfesten oder in Parkanlagen Station machten. Die Gruppen sollten sich selbst und die für sie "typische" Lebensweise präsentieren. Diese Zurschaustellungen orientierten sich an den allgemeinen Vorurteilen und Vorstellungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Zugleich verstärkten sie diese Stereotype, indem sie sie scheinbar bestätigten. Was als "typisch" für die jeweils ausgestellte Gruppe galt, entschieden die deutsche Bevölkerung und vor allem die deutschen Veranstalter solcher Menschenschauen.
Gewinnversprechende Unterhaltung
Ende des 19. Jahrhunderts entstand ein lukrativer Markt für die Ausstellungen. Händler wie Carl Hagenbeck schickten ihre Gruppen regelrecht auf Tourneen. Ohne koloniale Ungleichheit und Gewaltstrukturen wären Völkerschauen nicht möglich gewesen. Mit Ankunft in Deutschland übernahmen Agenten oder Händler die weitgehende Kontrolle über die Gruppen. Sie strichen den Großteil der Erlöse ein, strukturierten die Aufenthalte durch und in den ersten Jahrzehnten waren die Darstellerinnen und Darsteller auch europäischen Krankheiten wie Masern oder Tuberkulose schutzlos ausgesetzt.
Gleichwohl sollten die ausgestellten Menschen nicht als bloße Objekte verstanden werden. Sie nahmen aktiv Einfluss auf ihre Versorgung oder die Programme. Mitunter waren sie schon zuvor in ihrer Heimat schauspielerisch tätig und manche konnten trotz der geringen Löhne beachtlichen Gewinn erzielen.
Das Spiel mit Sehnsucht, Spektakel und Sensationsgier
Die Erwartungen und damit die Klischees der europäischen Zuschauerinnen und Zuschauer wurden am besten bedient, wenn die Darstellerinnen und Darsteller vor ausstaffierter Kulisse vermeintlichen Alltags- oder Arbeitspraktiken nachgingen. So reproduzierten die Veranstaltungen Bilder von Stammesfehden und archaischen Ringkämpfen, von sexualisierten Geschlechterrollen unterwürfiger, aber zugleich geheimnisvoller Frauen oder von primitiv wirkenden Essensritualen. Beliebt waren Frauen, die den europäischen Schönheitsidealen entsprachen, oder Männer, die den rassistischen Stereotypen von rauen Urmenschen besonders nahe kamen.
Unterschiedliche Gruppen wurden dabei mit verschiedenen rassistischen Zuschreibungen beworben: "hässliche Austral-Ne[...]r", exotische "Mädchen-Schönheiten" aus einer paradiesischen Welt in Mikronesien oder nordische Völker mit Rentieren in Zelten aus Fellen lebend zeigen, welche Bilder die europäischen Zuschauerinnen und Zuschauer erwarteten. Viele Menschen wurden teils leicht bekleidet als wild und unzivilisiert dargestellt.
Völkerschauen im Zoologischen Garten Münsters
Auf dem Gelände des ehemaligen Zoologischen Gartens fanden zwischen 1879 und 1928 mindestens 20 Völkerschauen statt. Gruppen von fast allen Erdteilen machten in Münster Station: Es sind Veranstaltungen mit Menschen unter anderem aus Samoa, Indien, Kamerun, Australien oder aus Finnland überliefert.
Die Lokalzeitungen berichteten ausführlich über die Veranstaltungen, die mehrere Tage oder sogar mehrere Wochen dauerten. Mit grafischen Darstellungen oder auch Berichten vermittelten die Tageszeitungen einen Eindruck von den fremden Menschen und wie sie von Münsters Bevölkerung wahrgenommen wurden. Im Juli 1885 bewarb der Münsterische Anzeiger eine Gruppe "Austral-Ureinwohner" als "tätowirte Kannibalen" und "Bummerang-Schleuderer". Archaische Gewaltinszenierungen drückten sich in Ankündigungen wie der "Züchtigung der Suahelis durch Nilpferdpeitschen" aus, wobei dieses Schauspiel von "Aufruhr, Meuterei und Gemetzel" einer "ostafrikanischen Karawane" dann fälschlicherweise vor das "Consulatsgebäude in Kamerun" verortet wurde.
Unter den Veranstaltern fanden sich in Münster auch die Brüder Hagenbeck oder der für das große US-amerikanische Zirkusunternehmen und Kuriosenkabinett Barnum&Bailey tätige Robert A. Cunningham. Über letzteren und eine von ihm verschleppte Gruppe australischer Indigener berichtete Münsters Zoodirektor Hermann Landois 1885: "in Kurzem wird der Eine nach dem Andern gestorben und Mr. Cunningham schließlich der einzig überlebende lachende Erbe sein. [Er] machte mir gegenüber auch gar kein Hehl daraus, dass er nicht im geringsten beabsichtige, die Wilden wieder in ihre Heimath zurückzuführen, vielmehr sie als Opfer seiner Geldgier bis zum letzten Athemzuge auszunutzen." (zitiert nach Christin Fleige, s. u.) Diese neunköpfige Gruppe junger Aborigines wurde über die USA nach Europa verschleppt, mindestens fünf von ihnen starben hier: Die damals 17-jährige Sussy Dakaro starb im Juni 1885 in Wuppertal an Tuberkulose und wurde dort bestattet. Wenige Wochen später wurden die verbliebenen vier Aborigines in Münster ausgestellt. (Quelle: Elias Dehnen, in Der SPIEGEL v. 15.3.2022)
Neben Profit und einer erschreckenden Nähe der Inszenierung von Menschen neben Tieren in Käfigen vor der "exotischen" Kulisse des Zoologischen Gartens wird die Veranstalter auch wissenschaftliches Interesse angetrieben haben. Denn "die Völkerschauen befriedigten nicht nur die Sehnsucht nach Exotik einer breiten (...) bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch die nach wissenschaftlichem Anschauungsmaterial all jener, die in den dem Evolutionismus verpflichteten Wissenschaften eine Antwort auf Fragen nach dem gesetzmäßigen Verlauf der menschlichen Entwicklung suchten." (Marion Jourdan, Koloniale Spektakel)
Weitere lesenswerte Hinweise bietet Christin Fleige im Blog "Alltagskultur" der LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen unter dem Titel
"Fröhliche Fremdlinge" und "tätowirte Kannibalen". "Völkerschauen" im alten Zoo Münster (2021)