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Überwasserkirchplatz 3
Die Ausgrabungen an der Überwasserkirche 2003–2005
Von April 2003 bis Februar 2005 konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtarchäologie vier große Bereiche nördlich der Überwasserkirche untersuchen, bevor anschließend die Diözesanbibliothek und zwei Verwaltungsgebäude errichtet wurden. Die Ergebnisse dieser Ausgrabungen werfen ein neues Licht auf die Bau- und Besiedlungsgeschichte dieses stadtgeschichtlich so wichtigen Areals und auf das Alltagsleben seiner Bewohnerinnen und Bewohner.
Im Jahr 2013 legte Mathias Austermann die wissenschaftliche Monografie zu den Ergebnissen der Ausgrabung vor, die zahlreiche weitere Beiträge aus interdisziplinärer Zusammenarbeit enthält. Kolleginnen und Kollegen aus den Fachrichtungen Kunstgeschichte, Geschichte, Historische Anthropologie und Paläozoologie bereicherten die archäologische Auswertung um vielfältige spannende Aspekte.
Fragen zur Gründungsgeschichte
Nach der schriftlichen Überlieferung gründete Bischof Hermann I. (reg. 1032–1042) kurz nach 1032 unterhalb des Domhügels auf der linken Seite der Aa ein Damenstift als klösterliche Wohnstätte lediger adeliger Frauen. Am Weihnachtsfest 1040 wurde die Kirche des neuen Klosters im Beisein von König Heinrich III. und zahlreichen Bischöfen feierlich geweiht. Für etwa 740 Jahre bestand das Kloster, ehe es 1773 zugunsten der neuen Universität aufgehobenen wurde.
Verschiedentlich hatte es in der münsterschen Stadtgeschichtsforschung Hinweise und Vermutungen gegeben, dass es bereits zuvor an der Stelle des späteren Damenstiftes eine ältere Besiedlung und eine Pfarrkirche gegeben habe. Die Hoffnung der Archäologinnen und Archäologen war also groß, bei den Ausgrabungen auf dem Gelände des ehemaligen Damenstifts und späteren Benediktinerinnenklosters nähere Erkenntnisse darüber zu gewinnen.
Gehöft und Friedhof im 10. und beginnenden 11. Jahrhundert
Durch die Ausgrabungen der Stadtarchäologie lässt sich nun zweifelsfrei festhalten, dass hier seit dem ausgehenden 9. oder spätestens seit dem 10. Jahrhundert eine bäuerliche Ansiedlung, vermutlich ein bischöflicher Wirtschaftshof, und eine Kirche mit einem kleinen Friedhof bestanden. Von dem Gehöft wurden Spuren der Wohn- und Wirtschaftsbauten gefunden, darunter auch sieben Grubenhäuser.
Zwar wurden während der Ausgrabungen 2003–2005 keine Reste der Kirche selbst gefunden, jedoch gab es aus einer früheren Ausgrabung bereits einen eindeutigen Hinweis, dass unter der heutigen Überwasserkirche und ihrem romanischen Vorgängerbau eine noch ältere steinernen Kirche gestanden haben musste. Zu ihr hatte ein Friedhof gehört, von dem während der Ausgrabungen 2003–2005 insgesamt acht Gräber entdeckt wurden.
Es handelte sich um Bestattungen in Baum- und Brettersärgen, die vor der Gründung des Damenstifts Überwasser im Jahr 1040 angelegt worden waren. Bei fünf Gräbern konnten Naturwissenschaftler mit Hilfe der sogenannten „C14-Datierung“, die auf dem Zerfall des Kohlenstoff-Isotops C14 beruht, den ungefähren Zeitpunkt ihrer Entstehung eingrenzen. Die hier Bestatteten waren zwischen dem ausgehenden 9. oder beginnenden 10. und der Mitte des 11. Jahrhunderts (vor 1040) verstorben.
Die ersten Klosterbauten
Nach der Gründung des Stifts blühte der Siedlungsbereich rund um das Stift auf und erhielt schließlich die Bezeichnung „Suburbium“ (Vorstadt) mit eigener Gerichtsbarkeit und Marktrechten. Aber auch die Gebäude des Damenstifts wurden im Laufe der Zeit vergrößert, erweitert und immer wieder baulich verändert, um sie an die wachsende Mitgliederzahl des Konvents sowie den jeweils herrschenden Zeitgeschmack anzupassen. Auch verheerende Brände, wie etwa jener des Jahres 1071, erforderten während der gesamten Zeit, in der das Stift bestand, immer wieder Renovierungen oder Umstrukturierungen am Gebäudebestand.
Die bauliche Entwicklung ist durch die Ausgrabungen nun annähernd geklärt: Nördlich der Kirche lag der Klausurbereich, in dem die Klostergebäude bereits in der Gründungsphase um einen nahezu quadratischen Kreuzgang angeordnet waren. Im Norden befand sich das Refektorium (Speisesaal), im Osten die Abtei und direkt neben der Kirche eine kleine Kapelle (Oratorium), die als Raum für Bestattungen von hochgestellten Personen, vielleicht Äbtissinnen und Stiftern diente. Der hochmittelalterliche Friedhof für die übrigen Bewohnerinnen und Geistlichen des Stifts schloss sich östlich an das Oratorium an.
Das Dormitorium (Schlafsaal) wurde nicht ausgegraben, doch es wird im Westen der Klausuranlage vermutet. Von hier aus gelangten die Bewohnerinnen des Stifts in ihren Damenchor, ihrem Gebets- und Gottesdienstort auf der Westempore der Kirche. Weitere Wirtschaftsgebäude und Versorgungseinrichtungen lagen im Norden des umgrenzen Klosterbereiches (Immunität), der von Westen und Osten über Tore zugänglich war. Die Wirtschaftsbauten waren zu dieser Zeit noch als Pfostenbauten errichtet worden, während die Klausurgebäude von Beginn an als massive Steinbauten entstanden.
Neubeginn nach einem Brand
In der Zeit um 1200 wurde das Kloster von einem verheerenden Brand betroffen, bei dem es sich möglicherweise um den Stadtbrand des Jahres 1197 handelte. Die anschließenden Baumaßnahmen erfassten den Kreuzgang mit der daran angebauten Abtei und dem Oratorium. Der Kreuzgang wurde nun verbreitert und teilweise zweigeschossig errichtet, ebenso die Abtei und das Oratorium. Zwischen den beiden Letzteren entstand ein weiterer Raum mit einer Fachwerkwand. Die Funde daraus lassen den Schluss zu, dass es sich möglicherweise um einen Werkraum oder ein Sommerrefektorium handelte, in dem sich die Damen zum Handarbeiten trafen. Auch die Nebengebäude nördlich der Klausur wurden neu als Fachwerkbauten errichtet.
Ein interessanter Befund war ein in den Fußboden des Oratoriums eingelassener Kugeltopf (Kochtopf) aus dem 13. Jahrhundert: Vermutlich diente er als Mausfalle.
Qualitätvolle Funde
Aus den archäologischen Untersuchungen wird deutlich, dass die adeligen Bewohnerinnen des Überwasserklosters während des Hochmittelalters einen hohen Lebensstandard genossen. Auch einige der geborgenen Funde lassen sich dem Bereich einer gehobenen Gesellschaftsschicht zuordnen. Ein seltener Fund ist ein 46mm großer flacher Spielstein aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, aus Knochen geschnitzt und aufwändig verziert, der heute im Stadtmuseum ausgestellt ist. Er gehörte wohl zu einem der im Mittelalter beliebten Tricktrack- oder Backgammon-Spiele.
Besonders wertvoll ist eine nur zwölf Millimeter große Fibel aus Gold, die im 11. Jahrhundert gearbeitet wurde. Sie zeigt in der Mitte ein abgetrepptes Kreuz aus weißem Zellen-Email, in den Zwickeln zwischen den Kreuzarmen blaues Email. Nicht ganz überraschend ist der Fund von Schreibgriffeln aus Eisen und Bronze, die aus hochmittelalterlichen Befunden stammen. Die adeligen Bewohnerinnen des Damenstiftes dürften früh lesen und schreiben gelernt haben, denn im Stift wurde auch geschrieben, verwaltet und unterrichtet: Die Damenstifte waren für junge adelige Mädchen und Frauen Orte der Bildung und Erziehung, wo sie auf ihre künftigen Aufgaben als Herrin oder, falls sie nicht heirateten, auf ihr Leben als Stiftsdame vorbereitet wurden.
Eine strengere Regel und Neubauten
Eine erneute grundlegende Umstrukturierung erfuhr das Damenstift im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, als die Bischöfe von Münster die Umwandlung in ein Benediktinerinnenkloster durchsetzten. Die Konventsmitglieder sollten nun stärker in das mönchische Ideal der Abgeschiedenheit und des gemeinsamen Lebens, die „vita communis“, eingebunden werden. Die bauliche Umsetzung dieser Reform kam in weiten Teilen einem Neubau des Klosters gleich: Es erhielt einen neuen Klausurbereich und wurde mit einer Mauer umgeben. In den Schriftquellen des Stiftes werden ausdrücklich ein hergerichteter und neu ausgeschmückter „Remter“ (Refektorium, Speisesaal), ein neu gebautes Dormitorium und ein aufwändig wieder hergestellter Wirtschaftstrakt genannt, der im Ostflügel der Klausur lag und ergraben wurde. Wegen des feuchten Baugrunds wurden die Fundamente dieser Baumaßnahme auf eine Unterlage aus Pfählen und Holzbohlen gesetzt. Mithilfe der Datierungsmethode aus dem Vergleich des Musters von Baumringen (Dendrochronologie) konnten die Baudaten zuverlässig auf die Zeit nach 1472 datiert werden.
Wenn Knochen Geschichte erzählen
Mehr als 220 Bestattungen wurden während der Ausgrabungen dokumentiert. Sie stammten aus verschiedenen, teilweise erfassten Friedhofbereichen wie dem ältesten Gemeindefriedhof des 10./11. Jahrhunderts, dem Friedhof der Stiftsdamen im Kreuzgang, im ehemaligen Kapellenanbau (Oratorium) und im Kreuzhof mit Gräbern aus dem 11. bis 18. Jahrhundert, und dem jüngeren Gemeindefriedhof des 17./18. Jahrhunderts westlich der Kirche. 213 Skelette wurden für eine anthropologische Untersuchung ausgewählt und nach deren Abschluss wieder beigesetzt.
Für jedes einzelne Skelett konnte ein kleines Stück Lebensgeschichte erzählt werden: das Sterbealter und die Körpergröße, Krankheiten oder Verletzungen und in wenigen Fällen auch die Todesursache. Ungünstige Lebensumstände wie Mangelernährungen oder Veränderungen durch Arbeit oder Fehlbildungen ließen sich ebenfalls an den Knochen ablesen. Überraschend ist es, dass bei den Menschen des Hoch- und Spätmittelalters aus den älteren Friedhofsbereichen nur wenige kariöse Veränderungen der Zähne beobachtet wurden. Hingegen war Karies bei den frühneuzeitlichen Bestattungen ein verbreitetes Phänomen, bedingt durch die allgemeine Umstellung auf stärker kohlenhydratreichere Ernährung.
Literatur
Austermann, Mathias: Die Stadt Münster: Ausgrabungen an der Stiftskirche Liebfrauen-Überwasser. Denkmalpflege und Forschung in Westfalen Bd. 41.2. Darmstadt 2013.
Dickers, Aurelia (2014): Stifte und Klöster des Mittelalters in Münster. In: Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum 9. Die Klöster 2014, S.167-180